Lese~Probe

Einführung Als ich heranwuchs, gab meine Mutter meinem Bruder und mir den Rat, niemandem zu erzählen, dass Bruce Lee unser Vater war. Sie sagte: »Die Leute sollen euch so kennenlernen, wie ihr seid, ohne dieses Wissen.« Es war ein toller Rat, und viele Jahre lang umschiffte ich das Thema auch so gut es ging in allen Gesprächen. Natürlich fanden meine Freunde es am Ende dann doch immer heraus, wenn sie zu Besuch kamen und die Familienbilder an den Wänden sahen. Allerdings hatte das bei den meisten kleinen Mädchen kaum mehr als ein interessiertes Schulterzucken zur Folge, bevor wir uns die Rollschuhe anzogen oder aufs Fahrrad stiegen. Doch als ich erwachsen wurde, hatte ich immer mehr das Gefühl, ich hätte etwas zu verbergen, und es wurde schwieriger, in Gesprächen auszuweichen, besonders nachdem ich die Verwaltung des Erbes meines Vaters übernommen hatte. Wenn ich mich den üblichen Einstiegsfragen wie »Und was machen Sie so?« oder »Wie sind Sie denn dazu gekommen?« entzog, kam ich mir vor, als würde ich bewusst irreführen, und das fühlte sich nicht gut an. Schließlich schäme ich mich ja nicht dafür, die Tochter von Bruce Lee zu sein – es ist mir eine Ehre. Ich muss allerdings sagen, die zum Teil überwältigenden Reaktionen der Leute zu erleben, das ist mitunter schon eine ganz schöne Herausforderung für mein Selbstwertgefühl. Vielleicht ist das ja der Grund, warum seine Philosophie der Selbstverwirklichung (ja, Bruce Lee war tatsächlich ein Philosoph!) in mir einen so starken Widerhall findet. Wie würdigt man angemessen die Gegebenheit seiner DNA und macht sich gleichzeitig bewusst, dass sie nichts über die eigene Seele aussagt? Oder doch? Nimmt man noch meinen Entschluss hinzu, einen Gutteil meines Lebens dem Schutz und der Förderung der Hinterlassenschaft eines Menschen zu widmen, der mir mein Leben geschenkt hat und der mir so unendlich viel bedeutet, dann werden Fragen nach Identität schon ziemlich verworren. »Was wissen Sie noch von Ihrem Vater?« Diese Frage höre ich immer wieder. Sie hat mich früher in arge Bedrängnis gebracht, weil ich sie nicht mit Bestimmtheit beantworten konnte. Als mein Vater starb, war ich erst vier Jahre alt, daher habe ich nicht viele eigene Geschichten oder umwerfende Lebensweisheiten, die er mir unmittelbar vermittelt hätte, so wie es die Menschen aus seinem Umfeld haben. Ich besitze auch keinen Brief, den er mir geschrieben hat. Wie könnte ich da begreiflich machen, dass ich trotzdem das Gefühl habe, ihn so durch und durch zu kennen? Wie sollte ich in Worte fassen, dass ich ihn auf eine Weise zu verstehen glaube, auf die selbst Menschen, die ihn »kannten«, ihn nicht verstanden haben? Ich bin allmählich dahintergekommen, dass diese Empfindungen – das Wissen um sein Wesen – meine Erinnerungen an ihn sind. Ich kenne ihn auf eine Weise, die ungetrübt ist von irgendwelchen Konflikten oder Verletzungen, Eifersüchteleien oder Rivalitäten oder auch von allzu schwärmerischen Vorstellungen. Ich weiß um seine Liebe, schlicht und ergreifend. Ich weiß darum, weil wir in unseren prägenden Jahren unsere Eltern über das erfahren, was wir mit unseren Sinnen aufnehmen. Bei den meisten Kindern ist ein ausgereiftes Erinnerungsvermögen erst sehr viel später als mit vier Jahren aktiv. Wir lernen erst mit der Zeit mithilfe unserer kulturellen Konstrukte das, was wir wahrnehmen, zu deuten und darauf zu reagieren. Deshalb schätzen wir Dinge als Kinder auch so oft falsch ein. Wir messen fälschlich Bedeutungen bei, weil wir gewisse Feinheiten nicht verstehen. Dazu fehlt uns noch die Lebenserfahrung. Doch die grundlegende Beschaffenheit der Dinge, die können wir sehr wohl ermessen, und das in mancherlei Hinsicht intensiver als unsere erwachsenen Gegenüber. Mein Vater hat mir all seine Liebe geschenkt, daran erinnere ich mich noch sehr deutlich. Ich erinnere mich an seine Wesensart. Ich erinnere mich an ihn. Mein Vater war auf vielerlei Weise ein wahrhaft außerordentlicher Mensch: intelligent, kreativ, gebildet, kompetent, ehrgeizig. Er arbeitete wirklich hart daran, alle Aspekte seiner Persönlichkeit zu verfeinern. Einmal sagte er: »Es mag nicht jeder glauben, aber ich habe Stunden darauf verwendet, alles, was ich tue, zu perfektionieren.« Er arbeitete nicht nur an der Ausformung seines Körpers, sondern auch daran, seinen Verstand zu formen, sich weiterzubilden, seine Techniken zu entwickeln, sein Potenzial auszubauen. Auch an den kleinen Dingen feilte er, etwa an einer schönen Handschrift oder einer grammatikalisch korrekten Sprache in Wort und Schrift; er versuchte, durch Witzeerzählen dem umgangssprachlichen Englisch näherzukommen; er lernte, Regie zu führen – die Liste ließe sich endlos fortsetzen. Damit legte er den Grundstein zu einem Vermächtnis, das auch siebenundvierzig Jahre nach seinem Tod noch von Bedeutung ist. Aber wenn ich durch die Anwendung seiner Philosophie eins gelernt habe, dann, dass man nicht Bruce Lee sein muss, um das Beste aus seinem Leben zu machen. Glaub mir. Für mich als seine Tochter war der selbst auferlegte Stress, auch nur zu einem Zehntel der Mensch zu sein, der er war, erdrückend, lähmend und beängstigend. Es hat mich schon mehr als einmal in meinem Leben an meine Grenzen gebracht. Aber in solchen Situationen hole ich tief Luft und rufe mir ins Gedächtnis: Bruce Lee will gar nicht, dass ich Bruce Lee werde. Gott sei Dank. Und auch du wirst in diesem Buch feststellen, dass Bruce Lees Wunsch für dich ist, die bestmögliche Ausprägung deiner selbst zu sein. Und das wird dann komplett anders aussehen als bei Bruce Lee, denn – na ja, du bist eben du. Und weißt du was? Auch Bruce Lee war in vielen Dingen überhaupt nicht gut. Er wusste kaum, wie man eine Glühbirne auswechselt oder Eier kocht. Ich möchte ihn mal gern bei dem Versuch sehen, IKEA-Möbel zusammenzubauen. (In meiner Fantasie ist das Teil am Ende völlig zersplittert, und der Inbusschlüssel ragt windschief aus der Wand heraus, gegen die er in tiefster Frustration geschleudert worden ist.) Aber davon mal abgesehen sollten seine Worte dich ermutigen, einen Prozess der Selbstverwirklichung zu erwägen, bei dem du ergründest, wer du eigentlich bist – bei dem du feststellst, wohin dein Potenzial dich zieht und wie du es ausbauen kannst. Daraus wird etwas zum Vorschein kommen, das genauso einzigartig, genauso strahlend, genauso erhebend und genauso energiegeladen sein wird, wie mein Vater es war, nur eben auf deine eigene Art. Und nicht nur das, am Ende wirst du ein zentriertes Gefühl der Bestimmung haben, das dir sehr viel mehr Seelenfrieden und Freude schenken wird. Genau deshalb habe ich schließlich mit der ganzen Sache angefangen. Es waren nicht die coolen T-Shirts (auch wenn die Shirts tatsächlich cool sind). Der Grund war, dass ich selbst von diesen Übungen und Worten tief berührt und geheilt wurde. Ich würde nicht einen so großen Teil meines Lebens dem Erbe meines Vaters widmen, wenn ich nicht ernsthaft der Meinung wäre, dass es meine Zeit und meinen Einsatz wert ist. Mir ist es wichtig, dass auch du diese zutiefst philosophische und inspirierende Seite meines Vaters so kennenlernst, wie ich sie kenne und erfahre. Und ich hoffe, dass du Gefallen findest an den Geschichten aus meiner Familie und dich vielleicht auch in der einen oder anderen selbst wiederfindest. Aber was qualifiziert mich überhaupt als deine Ratgeberin? Ich muss gestehen, dass ich weder Wissenschaftlerin bin noch Lehrerin oder Therapeutin, ja nicht mal ein Life Coach. Ich besitze keine Fachkenntnisse in irgendetwas außer Bruce Lee. Und selbst diese speziellen Kenntnisse basieren nicht auf einem umfassenden Wissen über Daten, Zeiten und Ereignisse. Meine Kompetenz besteht darin, dass ich ihn gekannt habe und von ihm geliebt wurde, dass ich dankbar dafür bin, dass es ihn gegeben hat, und auch darin, dass ich, so gut ich es vermag, nach seinen Worten lebe. Doch auch ohne jegliche Diplome und Fachkenntnisse habe ich dieses Buch als Mischung aus Anleitung, Allegorie und Offenbarung geschrieben. Denjenigen unter euch, die schon weit fortgeschritten sind auf ihrer spirituellen Reise, mag das Buch mitunter ein wenig schlicht vorkommen. Das ist Absicht. Meine Hoffnung ist, dass ein möglichst breites Spektrum von Menschen einen Zugang findet. Und je weiter du auf den Seiten voranschreitest, desto tiefgründiger werden die Botschaften. Ich hoffe, du wirst dranbleiben und ergründen, auf welchem Weg die Wasser fließen. Ich werde dir so gut ich kann die »Sei Wasser«-Philosophie meines Vaters nahebringen, so wie ich sie verstehe, nachdem ich mich nun schon viele Jahre intensiv mit seinem Leben und seinem Vermächtnis beschäftigt habe. Falls dir dieses Zitat meines Vaters noch nicht vertraut ist – es kam ihm im Zusammenhang mit seinem Kampfsport in den Sinn, und diesen werde ich dann auch im gesamten Buch als Metapher für ein intensiv gelebtes Leben verwenden. Was mir aber am wichtigsten ist: Wie Wasser sein bedeutet, sich zu bemühen, sein Leben sozusagen wie im Fluss und in Natürlichkeit zu leben. Wasser kann sich jedem Behälter anpassen, es kann weich oder hart sein, es ist einfach und von Natur aus immer es selbst, und es findet einen Weg, immer in Bewegung und im Fluss zu bleiben. Und jetzt stell dir vor, du könntest lernen, genauso flexibel, genauso feinfühlig, genauso natürlich und unaufhaltsam zu sein. Für einen Kampfsportler wie meinen Vater wäre das die ultimative Technik. Für mich ist es die ultimative Fähigkeit, als Mensch stark, frei und ich selbst zu sein. Ich glaube wirklich – und da bin ich nicht die Einzige –, dass mein Vater im Grunde einer der bedeutendsten und tiefsinnigsten Philosophen des 20. Jahrhunderts war. Nur leider kennen nicht viele Menschen ihn von dieser Seite, da er ein Actionstar und Kampfsportler war – und damit als Intellektueller nicht ernst zu nehmen. Bei Philosophen denken wir immer gleich an gelehrte Menschen, die eine lange wissenschaftliche Publikationsliste vorweisen können und inspirierende Vorlesungen im Hörsaal halten. Ein Filmstar kommt uns dabei nicht in den Sinn. Doch mein Vater war weit mehr als das, durch die Art, wie er sein Leben lebte, und durch die Worte, die er hinterließ. Es mag dich überraschen, wenn ich sage, dass ich, was das Material angeht, gar nicht so penibel bin. Eine Puristin bin ich nur in Bezug auf seine Energie. Mit seinen Worten nehme ich es nicht so akademisch genau. Wo ich es für sinnvoll hielt, meine Aussagen zu veranschaulichen, habe ich Zitate kombiniert oder bearbeitet, um sie eingängiger zu machen. Da die Zitate meines Vaters in der Regel in diesem Stil gehalten sind, greife ich überwiegend auf männliche Personalpronomen zurück, aber bitte zweifele nicht, dass dieses Buch für dich gedacht ist, egal, wer du bist oder wie du dich identifizierst. Auf den folgenden Seiten ist von vielen Konzepten die Rede, über die ganze Bücher geschrieben und um die herum ganze Trainingsprogramme entwickelt wurden, und von daher ist kein umfassender Einblick in einen einzelnen Bereich zu erwarten. Man sollte dieses Buch eher als einen Ausblick auf ein Leben voll bereichernder Erkundung und spannender Möglichkeiten sehen. Du solltest auch wissen, dass ich auch selbst immer noch lerne und wachse. Doch wie mein Vater sagte: »Das gute Leben ist ein Prozess, kein Daseinszustand. Es ist eine Richtung, kein Ziel.« Bevor du nun eintauchst, hier noch ein Hinweis: Manches wird dir unlogisch vorkommen. An einem Punkt werde ich dir nahelegen, deine Willenskraft zum Einsatz zu bringen, und ein paar Seiten später sollst du deinen Willen aufgeben. Möglicherweise werden die scheinbaren Widersprüche dich frustrieren. Aber es sind eigentlich gar keine Widersprüche. Es sind lediglich unterschiedliche Antworten auf immer neue Umstände. Denk immer daran, dass die Philosophie meines Vaters, und im Besonderen das »Sei Wasser«-Prinzip, im Grunde ein Ökosystem ist, das dein Dasein in seiner Gesamtheit umfasst. Versuch dich im Zweifelsfall immer am Wesen des Wassers zu orientieren (seiner Geschmeidigkeit, seiner Lebendigkeit), und ich werde mich nach Kräften um eine klare Ausdrucksweise bemühen. Und was das Wichtigste ist, wir streben nirgendwo eine starre Haltung an und folgen auch keinem festen Programm. Schließlich handelt dieses Buch von Wasser. Das Leben ist ja auch nicht starr oder programmiert. Man denke nur an eine Reifenpanne oder eine unerwartete Bonuszahlung. Wir müssen Raum schaffen und allen Irrungen und Wirrungen, allen Höhen und Tiefen des Lebens Rechnung tragen, während wir gleichzeitig lernen, flexibel, feinfühlig und unaufhaltsam zu sein. Sein Potenzial aufs Höchstmaß zu steigern und mit seinem ganzen Sein zu fließen, so etwas lernt man nicht über Nacht. Wenn du das erste Mal einen Erfolg erahnst und glaubst, du hättest den Dreh raus, wirst du angesichts einer neuen Herausforderung ins Straucheln geraten, deine alte Konditionierung wird wieder zum Vorschein kommen, und aus Frust würdest du am liebsten mit den Fäusten gegen die Wand trommeln. Und in diesem Moment wirst du dich einmal mehr entscheiden müssen, zu resignieren oder zu wachsen. Rufe dir in diesen Fällen die Worte meines Vaters in den Sinn: »Man muss gezielt durch Frustrationen wachsen, sonst hat man keinen Anreiz, eigene Mittel und Wege zu entwickeln, um es mit der Welt aufzunehmen.« Und es stimmt. Wenn du dich nie an einer Herausforderung versuchst, wird es dich, sobald du zum ersten Mal mit einer konfrontiert wirst, umhauen, und du wirst nicht wissen, was du machen sollst. Oder du willst dich nur noch irgendwo verkriechen. Betrachte daher Frustration als deinen Lehrer oder, wenn ich so weit gehen darf, als deinen Freund. Versuch darauf zu hören, was sie dir über dich sagen will, über deine Befähigung, deine Überzeugungen, darüber, wo du ein bisschen über dich hinausgehen musst, darüber, was du wirklich willst und liebst, und lass dich von ihr zu einem umfassenden Verständnis deiner selbst leiten. Ich garantiere dir, dass sich mit der Zeit dein Leben entfalten wird und du dich immer stärker und freier fühlen wirst. Wenn wir nun gemeinsam zu unserer Wasser-Reise aufbrechen, werden wir uns damit beschäftigen, wie man mit Niederlagen umgeht und mit sich wandelnden Umständen. Es wird darum gehen, wie man den Glauben an sich und den Glauben an diesen Prozess fördert, wie man durchweg achtsam durchs Leben geht und wie man zentriert lebt und Seelenfrieden findet. Es ist eine spannende Arbeit, aber es ist Arbeit. Es werden Fehler passieren. Es wird Hindernisse geben. Aber wir haben einen langen Atem. Es ist eine lebenslange Übung. Das Leben soll ja schließlich voll ausgekostet werden. Deshalb sollten wir es mit uneingeschränktem Engagement angehen. Wir sollten nach den Dingen Ausschau halten, die uns ansprechen und unseren Optimismus verstärken, während wir uns dieser Übung ein ganzes Leben lang widmen. Okay, es wird Anstrengung erfordern, es wird Misserfolge geben, aber ich hoffe doch, wir sind uns einig, dass wir daraus lernen können und daran wachsen und immer noch besser werden. Wir werden die richtige Grundhaltung zu unserer Übung entwickeln, das Beste aus uns zu machen, und das auf eine entspannte Weise. Und das Wichtigste ist, nie zu vergessen, dass wir nicht versuchen, ein zweiter Bruce Lee zu werden. Wir versuchen nur, ganz wir selbst zu sein. Und übrigens, du hast längst angefangen. Wir üben uns schon von Kindesbeinen an immer wieder darin, das Beste aus unserem Leben zu machen, auch wenn wir uns dessen vielleicht nicht jederzeit bewusst waren. Aber es ist so. Was ich dir anbiete, ist lediglich ein neuer Ansatzpunkt. Indem du dir dieses Buch besorgt und es aufgeschlagen hast, hast du ja bereits erkennen lassen, dass du einen weiteren Schritt auf dem Weg hin zu mehr Erfüllung in deinem Leben gehen möchtest. Versuchen wir also, mit dem Strom zu fließen, und haben wir Spaß dabei. Machen wir ein spannendes Experiment daraus. Schließlich soll es hier darum gehen herauszufinden, was dir wichtig ist, was dich antreibt, wie deine Träume aussehen und wer du im Kern wirklich bist. Mach dich also bereit und bemühe dich auf unserem Weg um die Einstellung, die mein Vater mit diesen Worten beschrieben hat: Sei nicht angespannt, sondern bereit, nicht denkend, aber auch nicht träumend, nicht festgelegt, sondern flexibel. Es geht darum, ganz und gar ruhig und gelassen lebendig zu sein, wach und bewusst, bereit für alles, was kommen mag … 1 Das Prinzip Wasser Wasser fließt mal schnell und mal langsam, aber seine Entschlossenheit ist kompromisslos und seine Bestimmung klar. Die Kampfkunst war die große Leidenschaft meines Vaters. Von dem Moment, in dem er als Dreizehnjähriger mit Wing Chun anfing, bis zu seinem Tod mit zweiunddreißig Jahren trainierte er jeden einzelnen Tag mit nur ganz wenigen Ausnahmen. Seine Begeisterung für die Sportart brachte er mit folgenden Worten zum Ausdruck: »Alles, was ich kann, habe ich durch die Ausübung der Kampfkunst gelernt.« Er besaß einen außerordentlich scharfen Verstand, und ich denke oft, was für ein genialer Schachzug des Schicksals es doch war, dass ein solcher Verstand sich zu einem so körperbetonten und kämpferischen Sport hingezogen fühlte. Tatsächlich ist die Kampfkunst auch eine perfekte Metapher für das Leben. In kaum einer anderen Sportart ist der Einsatz so hoch und so stark mit der eigenen Person verbunden wie hier. Das Können besteht bei der Kampfkunst darin, unter dramatischsten Bedingungen – der Gefahr, körperlich Schaden zu nehmen – fokussiert und reaktionsschnell zu bleiben. Ein Meister der Kampfkunst geht nicht nur gefasst und kompetent in eine Begegnung, er wird ein Künstler in Sachen Bewegung und artikuliert sich mit absoluter Freiheit und Bestimmtheit kraftvoll im unmittelbar sich entfaltenden Augenblick. Wenn die eigene Sicherheit oder gar das eigene Leben auf dem Spiel steht, bedeutet es eine enorme Selbstbeherrschung, wachsam, beweglich und wendig zu bleiben. Diese Bewegungsphilosophie diente Bruce Lee als Richtschnur für alle Aspekte seines Lebens. Er strebte immer nach dem, wie ich es gern nenne, »Wahren«. Dem wahren Kampf. Dem wahren Leben. Bewährten Konzepten. Alltagstauglichkeit. Er hielt nichts von erzielten Punkten durch Leichtkontakt, wie es in den Meisterschaften seinerzeit üblich war. Diese Art von wettbewerbsorientiertem Kampf mit all den vielen Regeln, wie man punktet, ohne zu verletzen, nannte er »Trockenschwimmen«. Das soll nicht heißen, dass er ständig herumlief und die Leute zum Straßenkampf herausforderte, obwohl er in seinem Leben durchaus den einen oder anderen harten Kampf ausgefochten hat. Was er allerdings tat, war, sich beim Training voll und ganz auszupowern. Zwar gab es in verschiedenen Kampfkünsten schon Schutzausrüstung, doch gehörte er zu den Ersten, die viele einzelne Teile umfunktionierten und damit echtes Sparring-Equipment für Ganzkörper- und Vollkontakt-Begegnungen schufen. Er machte Pratzen aus Baseballhandschuhen, indem er sie plättete und auspolsterte. Auch den Brustschutz von Baseball-Fängern, Boxausrüstung und Kendo-Handschuhe funktionierte er um. Diese Art von Sparring-Equipment wurde weiterentwickelt und ist inzwischen Standard, aber damals in den 1960er-Jahren hatte man im chinesischen Kung Fu (oder, wie mein Vater es im Kantonesisch seiner Heimat aussprach, »Gung Fu«) von einer derartigen Verwendung noch nie etwas gehört. Hartes körperliches Training und Kämpfe gaben meinem Vater Gelegenheit, immer wieder Grundprinzipien vom Körper auf den Geist zu übertragen und umgekehrt, von der Idee zur Tat. Das meiste (vielleicht sogar alles) von dem, was er in philosophischer Hinsicht vertreten hat, hatte seinen Ursprung in einer Verfeinerung seines Kampfkunststils. Und wie es mit allen allgemeingültigen Prinzipien der Fall ist, erkannte er am Ende dann, dass in diesen Kampfkunstpraktiken sehr viel mehr steckte – dass sie sich auch auf das Leben übertragen ließen. Aber jetzt mal von Anfang an. Ein Junge, ein Kung-Fu-Meister und ein Boot Mein Vater begann mit dreizehn Jahren in Hongkong, Wing Chun Gung Fu zu erlernen. Sein Sifu (Lehrer) war ein Mann namens Yip Man (oder auch Ip Man). Yip Man war ein sehr geschickter Lehrer, der nicht nur unermüdlich körperliche Techniken einbläute, sondern auch taoistische Philosophie und das Prinzip des Yin und Yang in seinen Unterricht einfließen ließ. Häufig veranschaulichte er seine Lehren mit Parabeln aus der Natur, beispielsweise anhand des Unterschieds zwischen einer Eiche und einem Bambus. (Die Eiche wird bei starkem Wind am Ende brechen, während der Bambus überlebt, weil er sich mit dem Wind bewegen kann.) Mein Vater war ein sehr engagierter Schüler und lernte schnell. Wann immer es ihm möglich war, übte er auch außerhalb des Unterrichts und wurde so zum Musterschüler. Aber er war eben auch ein Teenager, ein Teenager, dessen Spitzname in der Kindheit Mo Si Ting gewesen war, was so viel heißt wie »sitzt niemals still«, und dessen späterer Spitzname und Künstlername Siu Loong, »Kleiner Drache« lautete. Geboren in der Stunde des Drachen und im Jahr des Drachen war der junge Bruce Lee ganz Feuer, ganz »Yang«. Und Yip Man bemühte sich in einem fort, diesem ungestümen Jugendlichen begreiflich zu machen, wie wichtig über Stärke und Raffinesse hinaus Sanftheit, Fließfähigkeit und Geschmeidigkeit sind. Man muss meinem Vater zugutehalten, dass er zuhörte und sich Mühe gab, doch am Ende gewann sein Eifer (und sein Temperament) die Oberhand. Und überhaupt, so fand er, geht es nicht vor allem darum zu gewinnen, egal wie? Was hat Sanftheit denn mit Gewinnen zu tun? Eines Tages versuchte Yip Man, den jungen Bruce darin zu unterweisen, sich zu entspannen und innerlich zur Ruhe zu kommen, nicht mehr an sich selbst zu denken, sondern stattdessen die Bewegungen seines Gegners zu verfolgen. Im Prinzip wollte er ihn in der Kunst des Loslassens schulen – darin, sich von den eigenen Vorstellungen zu lösen und intuitiv auf den Gegner zu reagieren, statt sich in seine eigene Strategie zu verbeißen und wie besessen die eigenen Schläge und Bewegungen zu berechnen. Als sich mein Vater dann selbst in die Quere kam, sichtlich gefangen in seiner eigenen Cleverness und Kampflust, und ihm der Schweiß von der Stirn lief, griff Yip Man mehrfach ein und riet ihm, mit seinen Kräften zu haushalten und sich dem natürlichen Gang der Dinge zu überlassen. »Bäume dich niemals gegen die Natur auf«, mahnte er ihn. »Setze niemals einem Problem frontalen Widerstand entgegen, bring es lieber unter Kontrolle, indem du mit ihm mitschwingst.« Schließlich gebot er Bruce Einhalt und sagte: »Trainiere diese Woche nicht weiter. Geh nach Hause und denke nach über das, was ich gesagt habe.« Diese Woche nicht trainieren?! Das war, als hätte man meinen Vater aufgefordert, eine Woche lang nicht zu atmen. Vom Unterricht verbannt trainierte Bruce alleine weiter, und er meditierte und mühte sich in einsamer Einkehr ab herauszufinden, was sein Lehrer ihm sagen wollte. Frustriert und mit jeder Menge aufgestauter Energie beschloss er eines Tages, seine neugewonnene – unfreiwillige – freie Zeit für einen Bootsausflug in den Hafen von Hongkong zu nutzen. Nach einer Weile hörte er auf zu rudern, lag einfach nur im Boot und ließ sich von den Wellen treiben. Während er dahinschaukelte, ließ er sich noch einmal die Ermahnungen seines Lehrers und all die Zeit durch den Kopf gehen, die er mit Trainieren verbracht hatte. Was machte er falsch? Warum konnte er nicht begreifen, was sein Lehrer ihm sagte? Es ergab keinen Sinn! Sein Frust steigerte sich ins Unermessliche. Wutentbrannt lehnte er sich aus dem Boot und schlug mehrere Male mit seiner Faust auf das Südchinesische Meer. Plötzlich kam ihm ein Gedanke. Er hielt inne und blickte auf seine nasse Hand. Später schrieb mein Vater darüber in einem Aufsatz: Hatte dieses Wasser mir nicht soeben das Prinzip des Gung Fu veranschaulicht? Ich schlug es, aber es erlitt keinen Schmerz. Noch einmal schlug ich es, so fest ich konnte – und dennoch war es nicht verletzt! Daraufhin versuchte ich, eine Handvoll davon zu fassen, aber das erwies sich als unmöglich. Dieses Wasser, die weichste Substanz auf der Erde, das der kleinste Krug fassen konnte, war nur scheinbar schwach. In Wirklichkeit konnte es die härtesten Substanzen durchdringen. Das war’s! Ich wollte sein wie Wasser. Eine zweite Offenbarung kam ihm schon im nächsten Augenblick, als er über sich einen Vogel fliegen sah, der sich im Wasser spiegelte: Sollten nicht die Gedanken und Gefühle, die ich habe, wenn ich vor einem Gegner stehe, vorüberziehen wie das Spiegelbild des Vogels, der über dem Wasser fliegt? Genau das hat Professor Yip damit gemeint, ich sollte jemand sein, in dem die Gefühle nicht blockiert sind. Deshalb muss ich mich, um mich unter Kontrolle zu bekommen, zuerst selbst annehmen, indem ich mit meiner Natur einhergehe und mich ihr nicht widersetze. Und so begann die lange und innige Beziehung meines Vaters zum Wasser, einem Element, das weich ist und doch stark, natürlich und doch fähig, sich lenken zu lassen, distanziert und doch kraftvoll und vor allem unverzichtbar zum Leben. Nicht nur für Kampfsportler An diesem Punkt denkst du womöglich: »Ich bin doch kein Kampfsportler. Wieso soll dieses Buch etwas für mich sein, und was geht mich die Erleuchtung eines Siebzehnjährigen vor mehr als sechzig Jahren an?« Keine Bange. Auch wenn gelegentlich von Kampfkunst die Rede sein wird, so dient sie nur als Metapher und zur Veranschaulichung von Konzepten, die sich generell auf allgemeinmenschliche Erfahrungen anwenden lassen. Ich finde immer, dass man abstrakte Ideen mithilfe von bodenständigeren konkreten Beispielen leichter begreift. Und warum wir danach streben sollten, wie Wasser zu sein? Die philosophischen Ideen meines Vaters haben, ebenso wie seine Art zu leben, Menschen auf der ganzen Welt, mich selbst eingeschlossen, dazu angeregt, ihr Leben zum Besseren zu verändern. Und er orientierte sich in seiner Lebensführung nun mal am Wasser. Seinem Wesen entsprechend fließt Wasser. Es bahnt sich seinen Weg um Hindernisse herum (und sogar auch durch sie hindurch). Mein Vater sprach in diesem Zusammenhang von »keinen Grenzen«. Wasser ist ganz eins mit seiner Umgebung und den Umständen und von daher imstande, sich in jede Richtung zu bewegen, die ihm Durchlass ermöglicht. Diese Aufgeschlossenheit und Geschmeidigkeit versetzt es in einen Zustand ständiger Bereitschaft, einer natürlichen Bereitschaft freilich, denn das Wasser ist einfach nur ganz und gar es selbst. Wie Wasser zu sein bedeutet also, sein natürlichstes und authentischstes Ich zu leben, indem man sich auf seinem ganz eigenen Weg so weit wie möglich dem Sog des Lebens überlässt. Du kannst mir ruhig glauben, dass auf diesen Seiten auch etwas für dich dabei ist, ob du nun Sportler bist, Hausfrau und Mutter, Student, Musiker, Buchhalter, Unternehmer, Polizist oder welche Form dein Leben sonst angenommen haben mag. Andererseits ist vielleicht nicht alles in diesem Buch für dich relevant. Du solltest niemals alles unreflektiert schlucken, nur weil jemand anders es dir als wahr verkauft. Was für den einen wahr ist, muss es nicht unbedingt auch für einen anderen sein. Oder der Weg zu einer gemeinsamen Wahrheit mag für dich ganz anders aussehen als für deinen Nachbarn. Es gibt nicht den einen guten Rat oder das eine Handwerkszeug passend für alle. Ich kann dir nicht sagen, was für dich das Richtige ist, das kannst du nur selbst herausfinden, indem du einiges von dem hier Vorgeschlagenen ausprobierst. Ich werde meine Familiengeschichten, meine Gedanken, Erfahrungen und Ideen mit dir teilen. Der Rest liegt bei dir. Und wenn du hier nichts Hilfreiches für dich findest, wirf nicht gleich die Flinte ins Korn. Schau dich einfach weiter um, dann findest du schon noch das, wonach du suchst. Wollen wir uns dann jetzt, bildlich gesprochen, zum Auftakt verbeugen? Im Kampfsport beginnt jede Unterrichtsstunde mit einer Verbeugung. Das hat nichts mit Unterwürfigkeit zu tun. Es ist eine Willensbekundung. Ich bin da. Ich habe mich eingefunden. Ich bin ganz bei der Sache und bereit zum Mittun. Danke, dass du dabei bist. Lass uns mit ein paar Grundkenntnissen zum Thema Wasser anfangen. Keine Beschränkung Warum war die Vorstellung, wie Wasser zu sein, so wichtig für meinen Vater? Schließlich lautete die zentrale Lehre, mit der er seine Kunst und sein Leben auf den Punkt brachte, doch folgendermaßen: Nutze keinen Weg als Weg, betrachte keine Grenze als Grenze. Aber beschreibt nicht gerade das perfekt das Wesen des Wassers? Für jeden, der sich schon mal mit einem Leck herumschlagen musste, ist es oft rätselhaft, wie das Wasser reingekommen und an eine bestimmte Stelle gelangt ist. Manchmal muss man die ganze Wand oder die Decke aufreißen, um rauszufinden, wo es herkommt und welchen Weg es nimmt. Erst neulich habe ich wieder diese Erfahrung gemacht, als Wasser in mein Büro lief. Wir waren uns ziemlich sicher, dass es vom Dach her kam, aber es tropfte nicht einfach durch ein Loch unmittelbar über uns. Es tauchte an allen möglichen Stellen auf und sickerte durch die Wand im ersten Stock. Der Vermieter schickte dreimal jemanden zur Reparatur, aber ohne einen erkennbaren Eintrittspunkt drangen die Bemühungen des Handwerkers nicht zum Kern des Problems vor. Also ließen wir unsere Abdeckplanen und Eimer im ersten Stock, wo sie waren, in dem Glauben, im Stockwerk darunter sei alles einigermaßen sicher. Dann regnete es wieder, diesmal sintflutartig. Und da das Wasser einmal in die Wand im ersten Stock gelangt war, verfolgte es weiter seinen Weg durch sie hindurch, traf auf die Decke und lief weiter an den Balken entlang. Als wir am nächsten Tag zurückkamen, tropfte über die gesamte Breite des ersten Stocks Wasser von den Deckenbalken. So betrüblich das für uns auch war, war es vom Standpunkt des Wassers aus gesehen eine tolle Leistung. Weil sich das Wasser nicht Einhalt gebieten ließ. Es bahnte sich einen Weg, ja sogar mehrere Wege. Es schritt voran, bis es auf ein Hindernis traf, und dann änderte es, als es nötig wurde, seinen Kurs und floss weiter. Es machte aus der Aus-weg-losigkeit einen Weg. Mit anderen Worten, es nutzte alle Mittel und Wege. Es setzte sich keine Grenze. Obwohl wir inzwischen das Dach repariert haben, sucht sich das Regenwasser immer noch unbeirrt seinen Weg, jetzt allerdings außerhalb des Hauses und nicht mehr drinnen. Zum Glück. Das ist das Wesen des Wassers. Es ist unaufhaltsam. Und auch wenn das Wort Wasser in dem oben zitierten Leitsatz meines Vaters nicht vorkommt, so verdeutlicht er doch ausgezeichnet eine der herausragenden Wassereigenschaften, mit denen wir uns mal etwas genauer beschäftigen sollten – dass sich Wasser nicht aufhalten lässt. Es gräbt über Jahrhunderte Schluchten in Gebirge. Und wenn ich das Wort »beschäftigen« benutze, dann deshalb, weil ich nicht möchte, dass wir nur mal kurz darüber nachdenken. Das Leben ist schließlich mehr als eine Denksportaufgabe. Mit »beschäftigen« meine ich, sich etwas einverleiben, es sich durch den Kopf gehen lassen, es erfahren, es fühlen und ihm Einlass gewähren. Betrachten wir also das Wasser unter dem Aspekt, dass es nicht aufzuhalten ist – ähnlich wie viele Menschen Bruce Lee als nicht aufzuhalten gesehen haben. Du wirst vermutlich auch eine bestimmte Vorstellung von ihm als heldenhaftem, hartem Hund haben, der kurzen Prozess mit seinen Gegnern machte – sowohl im Film als auch im richtigen Leben. Was gehört also dazu, unaufhaltsam wie Wasser zu sein? Sei achtsam Für meinen Vater bedeutete »im Fluss sein« auch, gegenwärtig zu sein – sein Leben bewusst und zielgerichtet zu leben. Gegenwärtig zu sein heißt mehr, als nur Raum auszufüllen. Es geht nicht nur darum, ob man zum Unterricht erscheint, sondern ob man aktiv daran teilnimmt. Hörst du zu, stellst du Fragen, machst du dir Notizen, beteiligst du dich am Meinungsaustausch? Oder bist du zwar körperlich anwesend, aber am Handy, schon halb eingeschlafen, mit der Kapuze über dem Kopf und Stöpseln im Ohr? Gegenwärtig zu sein ist eine Schlüsselkomponente für das Wie-Wasser-Sein. Wie das? Nun ja, wenn das Regenwasser aus meinem Beispiel nicht in jedem Augenblick in aktivem Austausch mit seiner Umgebung gewesen wäre, hätte es nicht in mein Büro hineingefunden. Das ist das Wesen des Wassers. Wir dagegen können wählen, ob wir schon am ersten Hindernis stehen bleiben oder weitermachen, anders als das Wasser, das immer weitermacht, wenn es die Möglichkeit hat. Und vergiss nicht, dass selbst scheinbar stille Wasser von tiefen, sprudelnden Quellen, Dauerregen oder Schneeschmelze gespeist werden. Andernfalls würden sie anfangen zu stinken oder am Ende verdunsten. Wenn wir also unser menschliches Potenzial ausschöpfen wollen, dann dürfen auch wir nicht selbstgefällig werden oder uns aufhalten lassen. Wir müssen uns unseren Weg suchen und uns immer wieder neu auffrischen lassen. Und damit wir unseren Weg auch finden, müssen wir aufmerksam sein. Wir müssen darauf achtgeben, was um uns herum vor sich geht. Von meinem Vater gibt es ein Zitat, das ich besonders gern mag. Es lautet: »Um zu wachsen, um zu entdecken, müssen wir uns einbringen, etwas, das ich täglich erlebe; manchmal ist es gut und manchmal auch frustrierend.« Du denkst jetzt vielleicht: »Bringt sich denn nicht jeder in sein eigenes Leben ein?« Genau genommen ist es so, dass wir uns zwar insofern einbringen, als wir atmen und Dinge erledigen, viele von uns jedoch ihr Bewusstsein, ihre Selbsterkenntnis und letztendlich auch ihr Potenzial nicht voll ausnutzen. Wir steuern nicht vorausschauend den Verlauf unseres Lebens, schenken unserer Energie, unserem Umfeld und den Beziehungen, in denen wir uns befinden, nicht die nötige Aufmerksamkeit. Vielen von uns widerfährt das Leben nur. Wir sind gefangen in unbewussten Verhaltensmustern und vergessen, dass es doch eigentlich viele Alternativen gibt und viele Möglichkeiten, uns in die Gestaltung unseres Lebens einzubringen. Um es anders auszudrücken, wir sollten durch und durch lebendig sein, statt nur zu existieren. Und dazu müssen wir aufmerksam sein. Das soll nicht heißen, dass wir pausenlos gut drauf sein, die Zügel in der Hand haben, in unserem Element sein müssen. Das wäre sicher zu anstrengend und für die meisten von uns vermutlich auch gar nicht rund um die Uhr machbar, denn wie wir ja alle wissen, haben wir das Leben nun mal nicht immer in der Hand. Aus heiterem Himmel passieren uns schlimme Dinge. Wir werden entlassen. Wir werden krank. Wir verlieren einen lieben Menschen. Oder wir haben mitunter einfach alles satt und klinken uns aus. Da wäre zum Beispiel eine »Wasser-Übung« nach Art von Bruce Lee ein ideales Mittel, um unsere Aufmerksamkeit zu erhöhen und unsere Gegenwehr zu schärfen, damit wir fähig werden, dem Leben und allem, was es uns zumuten mag, mit so viel Fertigkeit, Bewusstheit und Eleganz wie möglich zu begegnen – und so ganz nebenbei den für uns richtigen Weg zu finden. Dabei spielen Gegenwärtigkeit und Achtsamkeit eine große Rolle. Wenn ich total negativ drauf bin oder jemanden aus einem rein emotionalen Reflex heraus anschnauze, dann gehe ich nicht auf eine Situation ein, ich reagiere einfach nur. Wenn ich gar nicht so recht weiß, wie ich mich fühle oder welche Gedanken mir durch den Kopf gehen, wie soll ich da schlechte Gewohnheiten ablegen oder größere Zufriedenheit finden? Ich muss in der Lage sein, mich zu beobachten, damit ich sehen kann, was ich ändern muss. Wenn ich achtgebe, merke ich, was um mich herum und in mir drinnen vorgeht, und nur dann kann ich ungehindert entscheiden, wie ich mich einbringen möchte. Man kann sich nicht für etwas entscheiden, wenn man gar nicht erst erkennt, dass man eine Wahl hat. Stell dir mal vor, wie es wäre, wenn du imstande wärst, dir jederzeit und in jeder Situation deine Reaktion auszusuchen, statt von einem Impuls übermannt zu werden. Was, wenn du dich angesichts einer besonderen Herausforderung mal nicht von deinen Gefühlen hinreißen lässt oder dichtmachst und wie gelähmt bist? Stell dir vor, wie es sich anfühlen würde, bei jedem Geschehnis voll und ganz gegenwärtig zu sein. Wie es wäre, in jeder Lebenslage die perfekte Reaktion zu zeigen, die deine Persönlichkeit genau widerspiegelt, statt dich aufzuregen oder die beleidigte Leberwurst zu spielen. Würdest du dich da nicht stark fühlen? Okay, ich sehe ein, dass dir dieses imaginäre kraftvolle Leben, so herrlich es sich auch anhört, momentan noch ziemlich unrealistisch erscheint. Das ist auch völlig in Ordnung. Wir werden uns das alles noch mal realistisch und lebensnah anschauen, denn wir brauchen ja schließlich nicht perfekt zu sein. Ja, du hast richtig gehört: Wir brauchen nicht perfekt zu sein. Wie Wasser zu sein heißt, nicht nach Vollkommenheit zu streben. Vollkommenheit ist ein heikler Lehrmeister. Wie Wasser zu sein heißt, nicht alles unter Kontrolle zu haben. Kontrolle ist eine schwere Last. Lass uns für den Moment Vollkommenheit und Kontrolle mal unter diesem Aspekt betrachten. In der beständigen und unvollkommenen Entfaltung von Leben steckt Vollkommenheit, denn jede Unvollkommenheit bietet mir die Chance, etwas zu lernen, das mich weiterbringt und das ich anwenden kann. Indem ich das lebe, was mir schwerfällt – Akzeptanz, Geduld, Liebe, Besserung –, gewinne ich Selbstvertrauen, bis die Fertigkeit, die ich lebe, mir in Fleisch und Blut übergeht. Vollkommenheit sollte mehr als Mittel gesehen werden, unsere Aufmerksamkeit zu schärfen, und weniger in ihrem landläufigen Sinn als eine Vollendung, die wir erreichen wollen. Haben wir uns erst mal mit dieser Sichtweise angefreundet, fällt es uns auch nicht mehr schwer, die Unvollkommenheiten des Lebens als perfekte Lehrmittel und Chancen für unsere Weiterentwicklung und Verbesserung zu betrachten statt als Maßstab für unseren Erfolg. Und dann ist da noch die Kontrolle. In dem astrologischen Geburtstagsbuch. Botschaften der Sterne für jeden Tag von Gary Goldschneider und Joost Elffers hat jeder Tag des Jahres einen Namen. Ich wurde demnach am »Tag der vollständigen Kontrolle« geboren. Ausgerechnet ich! Wer mich kennt, würde mich wohl kaum als Kontrollfreak beschreiben (zumindest hoffe ich das). Mir sind schon so viele Dinge passiert, die sich meiner Kontrolle entzogen haben, dass ich eher dazu neige, mich von vornherein geschlagen zu geben und das Beste aus einer Situation zu machen, statt zu versuchen, mir alles nach meinem Willen zurechtzubiegen. Allerdings sollte man hier einen Mittelweg suchen. Und der liegt möglicherweise darin, auszuloten, wie viel Kontrolle ich durch »Nicht-Kontrolle« ausüben kann. Wo kann ich in den Nachwehen eines Problems einen Weg erkennen? Wie stark kann ich meinen Willen geltend machen, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen, und dabei gleichzeitig dem, was sich tatsächlich ereignet, Raum geben? Vor Kurzem hatte ich ein großes Projekt, an das ich fest glaubte, das aber nicht ablief wie geplant. Mehr noch, es drohte krachend zu scheitern. Also versuchte ich, die Sache in den Griff zu bekommen, indem ich Himmel und Hölle in Bewegung setzte, um die richtigen Leute einzubinden und die notwendigen Änderungen zu veranlassen, während uns gleichzeitig Geld und Optionen ausgingen. Ich hing so sehr an dem Projekt. Ich wollte es erhalten, aber ich hatte einfach schlechte Karten. Also entschied ich mich im letzten Augenblick, mich nicht weiter gegen das zu wehren, was nicht mehr zu verkennen war. Es war unschön. Ich hatte Investoren mit hohen Erwartungen. Ich musste Menschen entlassen und Standorte schließen. Aber ich beschloss, mich dem Geschehen zu stellen und allen Widerstand aufzugeben. Ich legte die Zukunft des Projekts in die Hände des Universums und sagte: »Zeig mir den Weg.« Und wie Wasser begann ich dem Lauf dieser neuen Entwicklung zu folgen, statt zu versuchen, Hunderte Dämme zu bauen, um den Kurs des Stroms zu erzwingen. Okay, eine Phase des Projekts war zu Ende, aber daraus entwickelten sich einige neue Ideen (bessere sogar!) sowie neue potenzielle Partnerschaften und Möglichkeiten. Und das Wichtigste war, dass ich, indem ich losließ und dem natürlichen Gang der Dinge folgte, nicht etwa aufgab oder scheiterte. Ich fand einen neuen Weg und verringerte meinen Stress und meine Sorgen, während ich gleichzeitig auch noch Energie dazugewann. Und obwohl ich immer noch nicht weiß, ob dieses Projekt erfolgreich sein wird, bin ich weiter imstande, mich ihm ganz zu widmen, da zu sein, meine Energie da einzusetzen, wo sie nötig ist, und den Rest sich auf natürliche Weise entfalten zu lassen. Der Unterschied ist nur, dass ich nicht länger versuche, das Schicksal dieses ganzen komplizierten Unternehmens zu kontrollieren, und es muss auch nicht mehr perfekt werden. Ich bringe mich ein und gestalte mit, aber ich erzwinge nichts mehr. Mein Vater sagte: »Da ist der natürliche Instinkt, und da ist die Kontrolle. Du musst beides harmonisch zusammenführen.« Und so überlege ich ständig, wie viel »Kontrolle« ich im Rahmen meines vollkommen unvollkommenen Ichs ausüben kann, um voll und ganz gegenwärtig und verantwortungsvoll zu sein, wenn ich es mit schwierigen Situationen oder Menschen zu tun habe – damit ich einen neuen Weg für mich selbst und das, was ich erschaffe, erkennen kann. Das klappt nicht immer so ganz, und es steckt reichlich Lernstoff in der Überlegung, was hätte anders gemacht werden können. Doch alles Wachsen und Lernen, ob nun sofort oder später, funktioniert nur dann, wenn ich meinen inneren und äußeren Erfahrungen gegenüber voll und ganz aufgeschlossen bin. Sei geschmeidig Während der Mensch lebt, ist er weich und geschmeidig; ist er tot, wird er starr. Geschmeidigkeit ist Leben, Starrheit ist Tod, egal, ob es um den Körper, den Verstand oder die Seele geht. Sei geschmeidig. Eine der einfachsten und einleuchtendsten Lektionen des Wassers ist seine Geschmeidigkeit. Wirfst du einen Stein in einen Fluss, passt sich der Fluss so weit an, dass er Platz macht für den Stein. Das ist eins der Dinge, die mein Vater als Teenager an jenem Tag lernte, als er im Wasser eine Metapher für Gung Fu erkannte. Als er das Wasser zu fassen versuchte, rann es ihm durch die Finger. Als er dem Wasser einen Schlag versetzen wollte, entzog es sich seiner Faust und erlitt keinen Schaden. Mein Vater sprach später im Zusammenhang mit dem Leben und der Kampfkunst oft über die Bedeutung von Sanftheit und Geschmeidigkeit. Er wiederholte auch häufig die Lehre aus dem Bambus und der Eiche im Sturm, die ihm sein Sifu vermittelt hatte. Die Starrheit der Eiche führt am Ende zu ihrem Tod, ebenso wie ein starrer Geist oder eine starre Haltung einen Lern- und Wachstumsprozess verhindern kann und dadurch mit der Zeit zu Stress und Unzufriedenheit führt. Wenn man in seinem Denken oder in seiner Reaktion auf eine Situation nicht geschmeidig sein kann, schränkt man seine Aussichten auf Erfolg, Wachstum und auch auf Freude ein. Aber wie können wir geschmeidig, reaktionsfähig und zentriert bleiben? Wir wissen ja schon, dass es ganz wichtig ist, immer gegenwärtig und sich des Geschehens bewusst zu sein, damit wir auch flexibel reagieren können. Nehmen wir mal eine Anleihe bei der Kampfkunst. Der Kampfsport erfordert ganz konkret, dass man zu hundert Prozent gegenwärtig und fließend (beweglich) ist, um nicht kalt erwischt und aus dem Gleichgewicht gebracht – oder gar k. o. geschlagen – zu werden. Man muss auf den ankommenden Schlag reagieren, um ihm entweder auszuweichen oder ihn abzuwehren. Yip Man riet dem jungen Bruce, hart zu trainieren und dann ganz von sich selbst abzusehen und stattdessen die Bewegungen seines Gegners zu verfolgen. Wie Wasser zu sein bedeutet, sich seiner Umgebung und seinem Gegner anzupassen. Oder anders ausgedrückt, es bedeutet, geschmeidig zu sein. Doch wie lässt sich dieses Konzept auf das Leben übertragen? Wie Wasser sein heißt »im Fluss« sein. Sei zunächst mal gegenwärtig und achtsam und dann anpassungsfähig und beweglich. Wäre es im Leben nicht auch eine große Hilfe, wenn man imstande wäre, pausenlos achtsam zu bleiben und dadurch seine Probleme zu »umfließen«? Wenn mein Vater auch niemals den moderneren Ausdruck Flow-Zustand benutzte, so sprach er doch häufig vom »Fließen«. Für ihn war wie Wasser sein weit mehr als eine Metapher für Gung Fu, es war eine Leitphilosophie für das ganze Leben – eine, die er auf das Erlernen neuer Dinge, die Überwindung von Hindernissen und letzten Endes auch auf die Entdeckung seiner wahren Berufung anwandte. Mein Vater benutzte den Begriff des »lebendigen Wassers«. Wir wollen hier auch nicht von stagnierenden Tümpeln sprechen, ebenso wenig wie wir ein stagnierendes Leben führen wollen. Mein Vater verwendete auch häufig das Bild des fließenden Stroms oder das der Wellen im Ozean. So sagte er unter anderem: »Wie fließendes Wasser so ist auch das Leben permanente Bewegung.« Das Leben ist immer in Bewegung. Es ist niemals festgelegt. Selbst in unseren täglichen routinemäßigen Abläufen sind feine Unterschiede am Werk – unser Timing, unsere Stimmung, unsere Umgebung. Heute gehst du fünf Minuten früher aus der Tür; morgen hast du Kopfschmerzen; gerade hast du dich mit einer Freundin gestritten; es regnet womöglich, oder du hast dich vielleicht gerade verliebt. Kein Tag ist jemals ganz genau wie der andere, weshalb man, wenn man alle Tage angeht, als wären sie gleich und nicht ständigen Schwankungen unterworfen (d. h. in Bewegung), nicht gegenwärtig ist und damit nicht imstande, flexibel (fließend) auf sein fast unmerklich sich wandelndes Leben zu reagieren. Viele Faktoren wirken sich auf uns aus und verändern unsere Reaktionen selbst auf die alltäglichsten Abläufe. Daher kann uns die Aufstellung verbindlicher Lebensregeln ganz schnell in die Bredouille bringen, vor allem wenn das Leben mal beschließt, uns eine unangenehme Überraschung zu bescheren. Um es mit den Worten des griechischen Philosophen Heraklit zu sagen: »Niemand steigt zweimal in denselben Fluss, denn es ist nicht mehr derselbe Fluss, und er ist nicht mehr derselbe Mensch.« Jeden Tag sind wir anders und sind auch die Umstände andere. Selbst wenn eine Situation allem Anschein nach genau so ist, wie man sie schon einmal erlebt hat, ist sie es dennoch nicht. Nichts ist gleichbleibend. Es kommen immer Nuancen ins Spiel. Die Komplexität des Lebens bringt es mit sich, dass jeder einzelne Augenblick, jede Situation und jede Herausforderung neu ist, möglicherweise nur ganz geringfügig anders, aber dennoch haben sie unsere vollständige Aufmerksamkeit und unsere Flexibilität verdient. Als mein Vater seine Kampfkunst Jeet Kune Do (JKD) entwickelte, legte er großen Wert darauf, sie mit philosophischen Grundsätzen zu ergänzen. Sie dienten dazu, neben dem Körper auch Geist und Seele einzubeziehen, und waren ein Schutz vor einem rein mechanischen Einüben und oberflächlichem Training. JKD betont eine ansatzlose, nicht voraussehbare Bewegung, die sich so unmittelbar und in perfekter Reaktion auf die konkrete Situation vollzieht, dass der Gegner nicht sehen kann, was auf ihn zukommt. Die mit JKD verbundene Philosophie soll den beziehungsweise die Ausführende in einem Zustand des Fließens und des Gegenwärtigseins verankern, damit er oder sie flexibel bleibt und fähig, eine Veränderung anzustoßen beziehungsweise darauf zu reagieren. Und man kann nur auf Veränderung reagieren, wenn man die notwendige Beweglichkeit besitzt. Jedem Schritt sollte ein Warum zugrunde liegen. Ich möchte die Kampfkunst mit dem Geist der Philosophie erfüllen; deshalb ist das Studium der Philosophie für mich zwingend notwendig. Philosophie hebt mein Jeet Kune Do auf eine neue Sphäre im Bereich der Kampfkunst. Zwar kam Bruce die Idee zu seinem Jeet Kune Do bereits 1965 (auch wenn er ihr erst 1967 formell einen Namen gab), doch tat er sich sein ganzes Leben lang schwer damit, seine Vorstellungen in eine dauerhafte Form zu bringen, etwa in einem Buch. Er publizierte seine Ideen gerade deshalb nicht, weil er seine Kunst als etwas Lebendiges ansah, das zu Veränderung und Entwicklung fähig war, und weil er nicht den Eindruck erwecken wollte, das schriftlich Fixierte wäre alles. Er hatte Sorge, die Schüler des JKD würden nicht ihre spezifische eigene Erfahrung in den Lernprozess einbringen. Er tat sich so schwer damit, dass er zwar viele Fotos von Techniken machte und Seite um Seite mit seinen Gedanken zum Kampf vollschrieb, sich aber nicht dazu durchringen konnte, sie zu veröffentlichen. Er wollte keine »strenggläubigen« Anhänger schaffen, die sich weigerten, ihre eigenen Erfahrungen zu hinterfragen. Nichtsdestotrotz wurde 1975 posthum das Buch Das Tao des Jeet Kune Do von meiner Mutter und Mito Uyehara vom Black Belt-Magazin herausgebracht, die damit die Lehren und Gedanken meines Vaters über seinen Tod hinaus bewahren wollten. Es wurde sorgfältig darauf geachtet, dass kein Handbuch nach Schema F dabei herauskam, sondern ein Buch, das den Leser zu eigenen Gedanken und Entdeckungsreisen anregen möchte. Darin zeigte sich dann auch einmal mehr, wie sehr es Bruce Lees Freunden und Familie schon in Fleisch und Blut übergegangen war, seinem Wunsch gemäß in allen Ansätzen offen und flexibel zu bleiben. Später folgten noch weitere Handbücher, aber Das Tao des Jeet Kune Do ist und bleibt das Standardwerk zu diesem Thema, auch wenn es das abstrakteste ist. Und genau durch diesen Grad an Abstraktheit in der Darstellung spiegelt es so wunderbar das Wasser-Konzept meines Vaters wider. Es will nämlich nicht den Leser beeinflussen oder auf etwas festlegen, sondern lässt ihn aktiv und flexibel an seinem Erkenntnisprozess mitwirken. Die rechte Anspannung Eine der Grundlagen des Jeet Kune Do ist die Wachsamkeitsstellung: Die Wachsamkeitsstellung ist die Stellung, die für die mechanische Ausführung der gesamten Techniken und Künste am vorteilhaftesten ist. Sie ermöglicht völlige Entspannung, während sie gleichzeitig einem Muskel die für eine schnelle Reaktionszeit günstigste Anspannung verleiht. Die Wachsamkeitsstellung muss vor allem eine Position der »richtigen geistigen Einstellung« sein. (aus: Das Tao des Jeet Kune Do von Bruce Lee) Die Wachsamkeitsstellung war das, was mein Vater als die Ausgangsposition für seine Kunst bezeichnete – die Position, aus der heraus sich, wo immer möglich, alle Bewegungen entfachen sollten. Diese Stellung war einzigartig. Sie basierte auf seinem Verständnis der Gesetze der Physik und der Biomechanik sowie einer Analyse zahlreicher Kampfkünste, darunter vor allem Wing Chun, Boxen und Fechten. Bruce Lees Wachsamkeitsstellung war sowohl entspannt als auch aktiv. Bei dieser Stellung ist die hintere Ferse angehoben wie eine gewundene Schlange, bereit, sich jeden Augenblick abzustoßen und zuzuschlagen. Die Gliedmaßen sind locker, aber nicht schlaff. Die Knie leicht gebeugt, die Füße in Hüftbreite auseinander, etwa eine natürliche Schrittlänge voneinander entfernt, die Zehen des hinteren Fußes zeigen auf den Innenrist des vorderen Fußes, woraus ein stabiles Dreieck entsteht, das es schwer macht, dich nach hinten oder von einer Seite zur anderen zu stoßen. Mit anderen Worten, aktiv und dennoch standfest, entspannt und dennoch bereit. Wenn man sich meinen Dad in seinen Filmen anschaut, hüpft er häufig auf seine ihm eigene Weise locker vor seinem Gegner auf und ab. Er ist leichtfüßig, bereit, den Winkel seines Standes jeden Augenblick zu verändern. Doch er entfernt sich niemals, selbst in der Bewegung nicht, weit von der oben beschriebenen Stellung, sodass er jederzeit zuschlagen kann. Er schreibt über seine Stellung: »Ein guter Stand ist die Grundvoraussetzung.« Und so sollte man meiner Ansicht nach auch ans Leben herangehen. Ein guter Stand bedeutet, man hat eine feste Haltung, von der aus man sich flexibel in alle Richtungen bewegen kann. Sie schafft genau das richtige Gleichgewicht zwischen Entspannung und Anspannung, sodass Reaktionen prompt und wirkungsvoll ausfallen können. Und es bedeutet auch, sich mit Leichtigkeit bewegen und neu positionieren zu können, damit wir nie in Trägheit verfallen – »eine einfache und effektive Selbstdisziplinierung, sowohl mental als auch körperlich«. Es ist eine Haltung für ein engagiertes Leben.

Einführung Als ich heranwuchs, gab meine Mutter meinem Bruder und mir den Rat, niemandem zu erzählen, dass Bruce Lee unser Vater war. Sie sagte: »Die Leute sollen euch so kennenlernen, wie ihr seid, ohne dieses Wissen.« Es war ein toller Rat, und viele Jahre lang umschiffte ich das Thema auch so gut es ging in allen Gesprächen. Natürlich fanden meine Freunde es am Ende dann doch immer heraus, wenn sie zu Besuch kamen und die Familienbilder an den Wänden sahen. Allerdings hatte das bei den meisten kleinen Mädchen kaum mehr als ein interessiertes Schulterzucken zur Folge, bevor wir uns die Rollschuhe anzogen oder aufs Fahrrad stiegen. Doch als ich erwachsen wurde, hatte ich immer mehr das Gefühl, ich hätte etwas zu verbergen, und es wurde schwieriger, in Gesprächen auszuweichen, besonders nachdem ich die Verwaltung des Erbes meines Vaters übernommen hatte. Wenn ich mich den üblichen Einstiegsfragen wie »Und was machen Sie so?« oder »Wie sind Sie denn dazu gekommen?« entzog, kam ich mir vor, als würde ich bewusst irreführen, und das fühlte sich nicht gut an. Schließlich schäme ich mich ja nicht dafür, die Tochter von Bruce Lee zu sein – es ist mir eine Ehre. Ich muss allerdings sagen, die zum Teil überwältigenden Reaktionen der Leute zu erleben, das ist mitunter schon eine ganz schöne Herausforderung für mein Selbstwertgefühl. Vielleicht ist das ja der Grund, warum seine Philosophie der Selbstverwirklichung (ja, Bruce Lee war tatsächlich ein Philosoph!) in mir einen so starken Widerhall findet. Wie würdigt man angemessen die Gegebenheit seiner DNA und macht sich gleichzeitig bewusst, dass sie nichts über die eigene Seele aussagt? Oder doch? Nimmt man noch meinen Entschluss hinzu, einen Gutteil meines Lebens dem Schutz und der Förderung der Hinterlassenschaft eines Menschen zu widmen, der mir mein Leben geschenkt hat und der mir so unendlich viel bedeutet, dann werden Fragen nach Identität schon ziemlich verworren. »Was wissen Sie noch von Ihrem Vater?« Diese Frage höre ich immer wieder. Sie hat mich früher in arge Bedrängnis gebracht, weil ich sie nicht mit Bestimmtheit beantworten konnte. Als mein Vater starb, war ich erst vier Jahre alt, daher habe ich nicht viele eigene Geschichten oder umwerfende Lebensweisheiten, die er mir unmittelbar vermittelt hätte, so wie es die Menschen aus seinem Umfeld haben. Ich besitze auch keinen Brief, den er mir geschrieben hat. Wie könnte ich da begreiflich machen, dass ich trotzdem das Gefühl habe, ihn so durch und durch zu kennen? Wie sollte ich in Worte fassen, dass ich ihn auf eine Weise zu verstehen glaube, auf die selbst Menschen, die ihn »kannten«, ihn nicht verstanden haben? Ich bin allmählich dahintergekommen, dass diese Empfindungen – das Wissen um sein Wesen – meine Erinnerungen an ihn sind. Ich kenne ihn auf eine Weise, die ungetrübt ist von irgendwelchen Konflikten oder Verletzungen, Eifersüchteleien oder Rivalitäten oder auch von allzu schwärmerischen Vorstellungen. Ich weiß um seine Liebe, schlicht und ergreifend. Ich weiß darum, weil wir in unseren prägenden Jahren unsere Eltern über das erfahren, was wir mit unseren Sinnen aufnehmen. Bei den meisten Kindern ist ein ausgereiftes Erinnerungsvermögen erst sehr viel später als mit vier Jahren aktiv. Wir lernen erst mit der Zeit mithilfe unserer kulturellen Konstrukte das, was wir wahrnehmen, zu deuten und darauf zu reagieren. Deshalb schätzen wir Dinge als Kinder auch so oft falsch ein. Wir messen fälschlich Bedeutungen bei, weil wir gewisse Feinheiten nicht verstehen. Dazu fehlt uns noch die Lebenserfahrung. Doch die grundlegende Beschaffenheit der Dinge, die können wir sehr wohl ermessen, und das in mancherlei Hinsicht intensiver als unsere erwachsenen Gegenüber. Mein Vater hat mir all seine Liebe geschenkt, daran erinnere ich mich noch sehr deutlich. Ich erinnere mich an seine Wesensart. Ich erinnere mich an ihn. Mein Vater war auf vielerlei Weise ein wahrhaft außerordentlicher Mensch: intelligent, kreativ, gebildet, kompetent, ehrgeizig. Er arbeitete wirklich hart daran, alle Aspekte seiner Persönlichkeit zu verfeinern. Einmal sagte er: »Es mag nicht jeder glauben, aber ich habe Stunden darauf verwendet, alles, was ich tue, zu perfektionieren.« Er arbeitete nicht nur an der Ausformung seines Körpers, sondern auch daran, seinen Verstand zu formen, sich weiterzubilden, seine Techniken zu entwickeln, sein Potenzial auszubauen. Auch an den kleinen Dingen feilte er, etwa an einer schönen Handschrift oder einer grammatikalisch korrekten Sprache in Wort und Schrift; er versuchte, durch Witzeerzählen dem umgangssprachlichen Englisch näherzukommen; er lernte, Regie zu führen – die Liste ließe sich endlos fortsetzen. Damit legte er den Grundstein zu einem Vermächtnis, das auch siebenundvierzig Jahre nach seinem Tod noch von Bedeutung ist. Aber wenn ich durch die Anwendung seiner Philosophie eins gelernt habe, dann, dass man nicht Bruce Lee sein muss, um das Beste aus seinem Leben zu machen. Glaub mir. Für mich als seine Tochter war der selbst auferlegte Stress, auch nur zu einem Zehntel der Mensch zu sein, der er war, erdrückend, lähmend und beängstigend. Es hat mich schon mehr als einmal in meinem Leben an meine Grenzen gebracht. Aber in solchen Situationen hole ich tief Luft und rufe mir ins Gedächtnis: Bruce Lee will gar nicht, dass ich Bruce Lee werde. Gott sei Dank. Und auch du wirst in diesem Buch feststellen, dass Bruce Lees Wunsch für dich ist, die bestmögliche Ausprägung deiner selbst zu sein. Und das wird dann komplett anders aussehen als bei Bruce Lee, denn – na ja, du bist eben du. Und weißt du was? Auch Bruce Lee war in vielen Dingen überhaupt nicht gut. Er wusste kaum, wie man eine Glühbirne auswechselt oder Eier kocht. Ich möchte ihn mal gern bei dem Versuch sehen, IKEA-Möbel zusammenzubauen. (In meiner Fantasie ist das Teil am Ende völlig zersplittert, und der Inbusschlüssel ragt windschief aus der Wand heraus, gegen die er in tiefster Frustration geschleudert worden ist.) Aber davon mal abgesehen sollten seine Worte dich ermutigen, einen Prozess der Selbstverwirklichung zu erwägen, bei dem du ergründest, wer du eigentlich bist – bei dem du feststellst, wohin dein Potenzial dich zieht und wie du es ausbauen kannst. Daraus wird etwas zum Vorschein kommen, das genauso einzigartig, genauso strahlend, genauso erhebend und genauso energiegeladen sein wird, wie mein Vater es war, nur eben auf deine eigene Art. Und nicht nur das, am Ende wirst du ein zentriertes Gefühl der Bestimmung haben, das dir sehr viel mehr Seelenfrieden und Freude schenken wird. Genau deshalb habe ich schließlich mit der ganzen Sache angefangen. Es waren nicht die coolen T-Shirts (auch wenn die Shirts tatsächlich cool sind). Der Grund war, dass ich selbst von diesen Übungen und Worten tief berührt und geheilt wurde. Ich würde nicht einen so großen Teil meines Lebens dem Erbe meines Vaters widmen, wenn ich nicht ernsthaft der Meinung wäre, dass es meine Zeit und meinen Einsatz wert ist. Mir ist es wichtig, dass auch du diese zutiefst philosophische und inspirierende Seite meines Vaters so kennenlernst, wie ich sie kenne und erfahre. Und ich hoffe, dass du Gefallen findest an den Geschichten aus meiner Familie und dich vielleicht auch in der einen oder anderen selbst wiederfindest. Aber was qualifiziert mich überhaupt als deine Ratgeberin? Ich muss gestehen, dass ich weder Wissenschaftlerin bin noch Lehrerin oder Therapeutin, ja nicht mal ein Life Coach. Ich besitze keine Fachkenntnisse in irgendetwas außer Bruce Lee. Und selbst diese speziellen Kenntnisse basieren nicht auf einem umfassenden Wissen über Daten, Zeiten und Ereignisse. Meine Kompetenz besteht darin, dass ich ihn gekannt habe und von ihm geliebt wurde, dass ich dankbar dafür bin, dass es ihn gegeben hat, und auch darin, dass ich, so gut ich es vermag, nach seinen Worten lebe. Doch auch ohne jegliche Diplome und Fachkenntnisse habe ich dieses Buch als Mischung aus Anleitung, Allegorie und Offenbarung geschrieben. Denjenigen unter euch, die schon weit fortgeschritten sind auf ihrer spirituellen Reise, mag das Buch mitunter ein wenig schlicht vorkommen. Das ist Absicht. Meine Hoffnung ist, dass ein möglichst breites Spektrum von Menschen einen Zugang findet. Und je weiter du auf den Seiten voranschreitest, desto tiefgründiger werden die Botschaften. Ich hoffe, du wirst dranbleiben und ergründen, auf welchem Weg die Wasser fließen. Ich werde dir so gut ich kann die »Sei Wasser«-Philosophie meines Vaters nahebringen, so wie ich sie verstehe, nachdem ich mich nun schon viele Jahre intensiv mit seinem Leben und seinem Vermächtnis beschäftigt habe. Falls dir dieses Zitat meines Vaters noch nicht vertraut ist – es kam ihm im Zusammenhang mit seinem Kampfsport in den Sinn, und diesen werde ich dann auch im gesamten Buch als Metapher für ein intensiv gelebtes Leben verwenden. Was mir aber am wichtigsten ist: Wie Wasser sein bedeutet, sich zu bemühen, sein Leben sozusagen wie im Fluss und in Natürlichkeit zu leben. Wasser kann sich jedem Behälter anpassen, es kann weich oder hart sein, es ist einfach und von Natur aus immer es selbst, und es findet einen Weg, immer in Bewegung und im Fluss zu bleiben. Und jetzt stell dir vor, du könntest lernen, genauso flexibel, genauso feinfühlig, genauso natürlich und unaufhaltsam zu sein. Für einen Kampfsportler wie meinen Vater wäre das die ultimative Technik. Für mich ist es die ultimative Fähigkeit, als Mensch stark, frei und ich selbst zu sein. Ich glaube wirklich – und da bin ich nicht die Einzige –, dass mein Vater im Grunde einer der bedeutendsten und tiefsinnigsten Philosophen des 20. Jahrhunderts war. Nur leider kennen nicht viele Menschen ihn von dieser Seite, da er ein Actionstar und Kampfsportler war – und damit als Intellektueller nicht ernst zu nehmen. Bei Philosophen denken wir immer gleich an gelehrte Menschen, die eine lange wissenschaftliche Publikationsliste vorweisen können und inspirierende Vorlesungen im Hörsaal halten. Ein Filmstar kommt uns dabei nicht in den Sinn. Doch mein Vater war weit mehr als das, durch die Art, wie er sein Leben lebte, und durch die Worte, die er hinterließ. Es mag dich überraschen, wenn ich sage, dass ich, was das Material angeht, gar nicht so penibel bin. Eine Puristin bin ich nur in Bezug auf seine Energie. Mit seinen Worten nehme ich es nicht so akademisch genau. Wo ich es für sinnvoll hielt, meine Aussagen zu veranschaulichen, habe ich Zitate kombiniert oder bearbeitet, um sie eingängiger zu machen. Da die Zitate meines Vaters in der Regel in diesem Stil gehalten sind, greife ich überwiegend auf männliche Personalpronomen zurück, aber bitte zweifele nicht, dass dieses Buch für dich gedacht ist, egal, wer du bist oder wie du dich identifizierst. Auf den folgenden Seiten ist von vielen Konzepten die Rede, über die ganze Bücher geschrieben und um die herum ganze Trainingsprogramme entwickelt wurden, und von daher ist kein umfassender Einblick in einen einzelnen Bereich zu erwarten. Man sollte dieses Buch eher als einen Ausblick auf ein Leben voll bereichernder Erkundung und spannender Möglichkeiten sehen. Du solltest auch wissen, dass ich auch selbst immer noch lerne und wachse. Doch wie mein Vater sagte: »Das gute Leben ist ein Prozess, kein Daseinszustand. Es ist eine Richtung, kein Ziel.« Bevor du nun eintauchst, hier noch ein Hinweis: Manches wird dir unlogisch vorkommen. An einem Punkt werde ich dir nahelegen, deine Willenskraft zum Einsatz zu bringen, und ein paar Seiten später sollst du deinen Willen aufgeben. Möglicherweise werden die scheinbaren Widersprüche dich frustrieren. Aber es sind eigentlich gar keine Widersprüche. Es sind lediglich unterschiedliche Antworten auf immer neue Umstände. Denk immer daran, dass die Philosophie meines Vaters, und im Besonderen das »Sei Wasser«-Prinzip, im Grunde ein Ökosystem ist, das dein Dasein in seiner Gesamtheit umfasst. Versuch dich im Zweifelsfall immer am Wesen des Wassers zu orientieren (seiner Geschmeidigkeit, seiner Lebendigkeit), und ich werde mich nach Kräften um eine klare Ausdrucksweise bemühen. Und was das Wichtigste ist, wir streben nirgendwo eine starre Haltung an und folgen auch keinem festen Programm. Schließlich handelt dieses Buch von Wasser. Das Leben ist ja auch nicht starr oder programmiert. Man denke nur an eine Reifenpanne oder eine unerwartete Bonuszahlung. Wir müssen Raum schaffen und allen Irrungen und Wirrungen, allen Höhen und Tiefen des Lebens Rechnung tragen, während wir gleichzeitig lernen, flexibel, feinfühlig und unaufhaltsam zu sein. Sein Potenzial aufs Höchstmaß zu steigern und mit seinem ganzen Sein zu fließen, so etwas lernt man nicht über Nacht. Wenn du das erste Mal einen Erfolg erahnst und glaubst, du hättest den Dreh raus, wirst du angesichts einer neuen Herausforderung ins Straucheln geraten, deine alte Konditionierung wird wieder zum Vorschein kommen, und aus Frust würdest du am liebsten mit den Fäusten gegen die Wand trommeln. Und in diesem Moment wirst du dich einmal mehr entscheiden müssen, zu resignieren oder zu wachsen. Rufe dir in diesen Fällen die Worte meines Vaters in den Sinn: »Man muss gezielt durch Frustrationen wachsen, sonst hat man keinen Anreiz, eigene Mittel und Wege zu entwickeln, um es mit der Welt aufzunehmen.« Und es stimmt. Wenn du dich nie an einer Herausforderung versuchst, wird es dich, sobald du zum ersten Mal mit einer konfrontiert wirst, umhauen, und du wirst nicht wissen, was du machen sollst. Oder du willst dich nur noch irgendwo verkriechen. Betrachte daher Frustration als deinen Lehrer oder, wenn ich so weit gehen darf, als deinen Freund. Versuch darauf zu hören, was sie dir über dich sagen will, über deine Befähigung, deine Überzeugungen, darüber, wo du ein bisschen über dich hinausgehen musst, darüber, was du wirklich willst und liebst, und lass dich von ihr zu einem umfassenden Verständnis deiner selbst leiten. Ich garantiere dir, dass sich mit der Zeit dein Leben entfalten wird und du dich immer stärker und freier fühlen wirst. Wenn wir nun gemeinsam zu unserer Wasser-Reise aufbrechen, werden wir uns damit beschäftigen, wie man mit Niederlagen umgeht und mit sich wandelnden Umständen. Es wird darum gehen, wie man den Glauben an sich und den Glauben an diesen Prozess fördert, wie man durchweg achtsam durchs Leben geht und wie man zentriert lebt und Seelenfrieden findet. Es ist eine spannende Arbeit, aber es ist Arbeit. Es werden Fehler passieren. Es wird Hindernisse geben. Aber wir haben einen langen Atem. Es ist eine lebenslange Übung. Das Leben soll ja schließlich voll ausgekostet werden. Deshalb sollten wir es mit uneingeschränktem Engagement angehen. Wir sollten nach den Dingen Ausschau halten, die uns ansprechen und unseren Optimismus verstärken, während wir uns dieser Übung ein ganzes Leben lang widmen. Okay, es wird Anstrengung erfordern, es wird Misserfolge geben, aber ich hoffe doch, wir sind uns einig, dass wir daraus lernen können und daran wachsen und immer noch besser werden. Wir werden die richtige Grundhaltung zu unserer Übung entwickeln, das Beste aus uns zu machen, und das auf eine entspannte Weise. Und das Wichtigste ist, nie zu vergessen, dass wir nicht versuchen, ein zweiter Bruce Lee zu werden. Wir versuchen nur, ganz wir selbst zu sein. Und übrigens, du hast längst angefangen. Wir üben uns schon von Kindesbeinen an immer wieder darin, das Beste aus unserem Leben zu machen, auch wenn wir uns dessen vielleicht nicht jederzeit bewusst waren. Aber es ist so. Was ich dir anbiete, ist lediglich ein neuer Ansatzpunkt. Indem du dir dieses Buch besorgt und es aufgeschlagen hast, hast du ja bereits erkennen lassen, dass du einen weiteren Schritt auf dem Weg hin zu mehr Erfüllung in deinem Leben gehen möchtest. Versuchen wir also, mit dem Strom zu fließen, und haben wir Spaß dabei. Machen wir ein spannendes Experiment daraus. Schließlich soll es hier darum gehen herauszufinden, was dir wichtig ist, was dich antreibt, wie deine Träume aussehen und wer du im Kern wirklich bist. Mach dich also bereit und bemühe dich auf unserem Weg um die Einstellung, die mein Vater mit diesen Worten beschrieben hat: Sei nicht angespannt, sondern bereit, nicht denkend, aber auch nicht träumend, nicht festgelegt, sondern flexibel. Es geht darum, ganz und gar ruhig und gelassen lebendig zu sein, wach und bewusst, bereit für alles, was kommen mag … 1 Das Prinzip Wasser Wasser fließt mal schnell und mal langsam, aber seine Entschlossenheit ist kompromisslos und seine Bestimmung klar. Die Kampfkunst war die große Leidenschaft meines Vaters. Von dem Moment, in dem er als Dreizehnjähriger mit Wing Chun anfing, bis zu seinem Tod mit zweiunddreißig Jahren trainierte er jeden einzelnen Tag mit nur ganz wenigen Ausnahmen. Seine Begeisterung für die Sportart brachte er mit folgenden Worten zum Ausdruck: »Alles, was ich kann, habe ich durch die Ausübung der Kampfkunst gelernt.« Er besaß einen außerordentlich scharfen Verstand, und ich denke oft, was für ein genialer Schachzug des Schicksals es doch war, dass ein solcher Verstand sich zu einem so körperbetonten und kämpferischen Sport hingezogen fühlte. Tatsächlich ist die Kampfkunst auch eine perfekte Metapher für das Leben. In kaum einer anderen Sportart ist der Einsatz so hoch und so stark mit der eigenen Person verbunden wie hier. Das Können besteht bei der Kampfkunst darin, unter dramatischsten Bedingungen – der Gefahr, körperlich Schaden zu nehmen – fokussiert und reaktionsschnell zu bleiben. Ein Meister der Kampfkunst geht nicht nur gefasst und kompetent in eine Begegnung, er wird ein Künstler in Sachen Bewegung und artikuliert sich mit absoluter Freiheit und Bestimmtheit kraftvoll im unmittelbar sich entfaltenden Augenblick. Wenn die eigene Sicherheit oder gar das eigene Leben auf dem Spiel steht, bedeutet es eine enorme Selbstbeherrschung, wachsam, beweglich und wendig zu bleiben. Diese Bewegungsphilosophie diente Bruce Lee als Richtschnur für alle Aspekte seines Lebens. Er strebte immer nach dem, wie ich es gern nenne, »Wahren«. Dem wahren Kampf. Dem wahren Leben. Bewährten Konzepten. Alltagstauglichkeit. Er hielt nichts von erzielten Punkten durch Leichtkontakt, wie es in den Meisterschaften seinerzeit üblich war. Diese Art von wettbewerbsorientiertem Kampf mit all den vielen Regeln, wie man punktet, ohne zu verletzen, nannte er »Trockenschwimmen«. Das soll nicht heißen, dass er ständig herumlief und die Leute zum Straßenkampf herausforderte, obwohl er in seinem Leben durchaus den einen oder anderen harten Kampf ausgefochten hat. Was er allerdings tat, war, sich beim Training voll und ganz auszupowern. Zwar gab es in verschiedenen Kampfkünsten schon Schutzausrüstung, doch gehörte er zu den Ersten, die viele einzelne Teile umfunktionierten und damit echtes Sparring-Equipment für Ganzkörper- und Vollkontakt-Begegnungen schufen. Er machte Pratzen aus Baseballhandschuhen, indem er sie plättete und auspolsterte. Auch den Brustschutz von Baseball-Fängern, Boxausrüstung und Kendo-Handschuhe funktionierte er um. Diese Art von Sparring-Equipment wurde weiterentwickelt und ist inzwischen Standard, aber damals in den 1960er-Jahren hatte man im chinesischen Kung Fu (oder, wie mein Vater es im Kantonesisch seiner Heimat aussprach, »Gung Fu«) von einer derartigen Verwendung noch nie etwas gehört. Hartes körperliches Training und Kämpfe gaben meinem Vater Gelegenheit, immer wieder Grundprinzipien vom Körper auf den Geist zu übertragen und umgekehrt, von der Idee zur Tat. Das meiste (vielleicht sogar alles) von dem, was er in philosophischer Hinsicht vertreten hat, hatte seinen Ursprung in einer Verfeinerung seines Kampfkunststils. Und wie es mit allen allgemeingültigen Prinzipien der Fall ist, erkannte er am Ende dann, dass in diesen Kampfkunstpraktiken sehr viel mehr steckte – dass sie sich auch auf das Leben übertragen ließen. Aber jetzt mal von Anfang an. Ein Junge, ein Kung-Fu-Meister und ein Boot Mein Vater begann mit dreizehn Jahren in Hongkong, Wing Chun Gung Fu zu erlernen. Sein Sifu (Lehrer) war ein Mann namens Yip Man (oder auch Ip Man). Yip Man war ein sehr geschickter Lehrer, der nicht nur unermüdlich körperliche Techniken einbläute, sondern auch taoistische Philosophie und das Prinzip des Yin und Yang in seinen Unterricht einfließen ließ. Häufig veranschaulichte er seine Lehren mit Parabeln aus der Natur, beispielsweise anhand des Unterschieds zwischen einer Eiche und einem Bambus. (Die Eiche wird bei starkem Wind am Ende brechen, während der Bambus überlebt, weil er sich mit dem Wind bewegen kann.) Mein Vater war ein sehr engagierter Schüler und lernte schnell. Wann immer es ihm möglich war, übte er auch außerhalb des Unterrichts und wurde so zum Musterschüler. Aber er war eben auch ein Teenager, ein Teenager, dessen Spitzname in der Kindheit Mo Si Ting gewesen war, was so viel heißt wie »sitzt niemals still«, und dessen späterer Spitzname und Künstlername Siu Loong, »Kleiner Drache« lautete. Geboren in der Stunde des Drachen und im Jahr des Drachen war der junge Bruce Lee ganz Feuer, ganz »Yang«. Und Yip Man bemühte sich in einem fort, diesem ungestümen Jugendlichen begreiflich zu machen, wie wichtig über Stärke und Raffinesse hinaus Sanftheit, Fließfähigkeit und Geschmeidigkeit sind. Man muss meinem Vater zugutehalten, dass er zuhörte und sich Mühe gab, doch am Ende gewann sein Eifer (und sein Temperament) die Oberhand. Und überhaupt, so fand er, geht es nicht vor allem darum zu gewinnen, egal wie? Was hat Sanftheit denn mit Gewinnen zu tun? Eines Tages versuchte Yip Man, den jungen Bruce darin zu unterweisen, sich zu entspannen und innerlich zur Ruhe zu kommen, nicht mehr an sich selbst zu denken, sondern stattdessen die Bewegungen seines Gegners zu verfolgen. Im Prinzip wollte er ihn in der Kunst des Loslassens schulen – darin, sich von den eigenen Vorstellungen zu lösen und intuitiv auf den Gegner zu reagieren, statt sich in seine eigene Strategie zu verbeißen und wie besessen die eigenen Schläge und Bewegungen zu berechnen. Als sich mein Vater dann selbst in die Quere kam, sichtlich gefangen in seiner eigenen Cleverness und Kampflust, und ihm der Schweiß von der Stirn lief, griff Yip Man mehrfach ein und riet ihm, mit seinen Kräften zu haushalten und sich dem natürlichen Gang der Dinge zu überlassen. »Bäume dich niemals gegen die Natur auf«, mahnte er ihn. »Setze niemals einem Problem frontalen Widerstand entgegen, bring es lieber unter Kontrolle, indem du mit ihm mitschwingst.« Schließlich gebot er Bruce Einhalt und sagte: »Trainiere diese Woche nicht weiter. Geh nach Hause und denke nach über das, was ich gesagt habe.« Diese Woche nicht trainieren?! Das war, als hätte man meinen Vater aufgefordert, eine Woche lang nicht zu atmen. Vom Unterricht verbannt trainierte Bruce alleine weiter, und er meditierte und mühte sich in einsamer Einkehr ab herauszufinden, was sein Lehrer ihm sagen wollte. Frustriert und mit jeder Menge aufgestauter Energie beschloss er eines Tages, seine neugewonnene – unfreiwillige – freie Zeit für einen Bootsausflug in den Hafen von Hongkong zu nutzen. Nach einer Weile hörte er auf zu rudern, lag einfach nur im Boot und ließ sich von den Wellen treiben. Während er dahinschaukelte, ließ er sich noch einmal die Ermahnungen seines Lehrers und all die Zeit durch den Kopf gehen, die er mit Trainieren verbracht hatte. Was machte er falsch? Warum konnte er nicht begreifen, was sein Lehrer ihm sagte? Es ergab keinen Sinn! Sein Frust steigerte sich ins Unermessliche. Wutentbrannt lehnte er sich aus dem Boot und schlug mehrere Male mit seiner Faust auf das Südchinesische Meer. Plötzlich kam ihm ein Gedanke. Er hielt inne und blickte auf seine nasse Hand. Später schrieb mein Vater darüber in einem Aufsatz: Hatte dieses Wasser mir nicht soeben das Prinzip des Gung Fu veranschaulicht? Ich schlug es, aber es erlitt keinen Schmerz. Noch einmal schlug ich es, so fest ich konnte – und dennoch war es nicht verletzt! Daraufhin versuchte ich, eine Handvoll davon zu fassen, aber das erwies sich als unmöglich. Dieses Wasser, die weichste Substanz auf der Erde, das der kleinste Krug fassen konnte, war nur scheinbar schwach. In Wirklichkeit konnte es die härtesten Substanzen durchdringen. Das war’s! Ich wollte sein wie Wasser. Eine zweite Offenbarung kam ihm schon im nächsten Augenblick, als er über sich einen Vogel fliegen sah, der sich im Wasser spiegelte: Sollten nicht die Gedanken und Gefühle, die ich habe, wenn ich vor einem Gegner stehe, vorüberziehen wie das Spiegelbild des Vogels, der über dem Wasser fliegt? Genau das hat Professor Yip damit gemeint, ich sollte jemand sein, in dem die Gefühle nicht blockiert sind. Deshalb muss ich mich, um mich unter Kontrolle zu bekommen, zuerst selbst annehmen, indem ich mit meiner Natur einhergehe und mich ihr nicht widersetze. Und so begann die lange und innige Beziehung meines Vaters zum Wasser, einem Element, das weich ist und doch stark, natürlich und doch fähig, sich lenken zu lassen, distanziert und doch kraftvoll und vor allem unverzichtbar zum Leben. Nicht nur für Kampfsportler An diesem Punkt denkst du womöglich: »Ich bin doch kein Kampfsportler. Wieso soll dieses Buch etwas für mich sein, und was geht mich die Erleuchtung eines Siebzehnjährigen vor mehr als sechzig Jahren an?« Keine Bange. Auch wenn gelegentlich von Kampfkunst die Rede sein wird, so dient sie nur als Metapher und zur Veranschaulichung von Konzepten, die sich generell auf allgemeinmenschliche Erfahrungen anwenden lassen. Ich finde immer, dass man abstrakte Ideen mithilfe von bodenständigeren konkreten Beispielen leichter begreift. Und warum wir danach streben sollten, wie Wasser zu sein? Die philosophischen Ideen meines Vaters haben, ebenso wie seine Art zu leben, Menschen auf der ganzen Welt, mich selbst eingeschlossen, dazu angeregt, ihr Leben zum Besseren zu verändern. Und er orientierte sich in seiner Lebensführung nun mal am Wasser. Seinem Wesen entsprechend fließt Wasser. Es bahnt sich seinen Weg um Hindernisse herum (und sogar auch durch sie hindurch). Mein Vater sprach in diesem Zusammenhang von »keinen Grenzen«. Wasser ist ganz eins mit seiner Umgebung und den Umständen und von daher imstande, sich in jede Richtung zu bewegen, die ihm Durchlass ermöglicht. Diese Aufgeschlossenheit und Geschmeidigkeit versetzt es in einen Zustand ständiger Bereitschaft, einer natürlichen Bereitschaft freilich, denn das Wasser ist einfach nur ganz und gar es selbst. Wie Wasser zu sein bedeutet also, sein natürlichstes und authentischstes Ich zu leben, indem man sich auf seinem ganz eigenen Weg so weit wie möglich dem Sog des Lebens überlässt. Du kannst mir ruhig glauben, dass auf diesen Seiten auch etwas für dich dabei ist, ob du nun Sportler bist, Hausfrau und Mutter, Student, Musiker, Buchhalter, Unternehmer, Polizist oder welche Form dein Leben sonst angenommen haben mag. Andererseits ist vielleicht nicht alles in diesem Buch für dich relevant. Du solltest niemals alles unreflektiert schlucken, nur weil jemand anders es dir als wahr verkauft. Was für den einen wahr ist, muss es nicht unbedingt auch für einen anderen sein. Oder der Weg zu einer gemeinsamen Wahrheit mag für dich ganz anders aussehen als für deinen Nachbarn. Es gibt nicht den einen guten Rat oder das eine Handwerkszeug passend für alle. Ich kann dir nicht sagen, was für dich das Richtige ist, das kannst du nur selbst herausfinden, indem du einiges von dem hier Vorgeschlagenen ausprobierst. Ich werde meine Familiengeschichten, meine Gedanken, Erfahrungen und Ideen mit dir teilen. Der Rest liegt bei dir. Und wenn du hier nichts Hilfreiches für dich findest, wirf nicht gleich die Flinte ins Korn. Schau dich einfach weiter um, dann findest du schon noch das, wonach du suchst. Wollen wir uns dann jetzt, bildlich gesprochen, zum Auftakt verbeugen? Im Kampfsport beginnt jede Unterrichtsstunde mit einer Verbeugung. Das hat nichts mit Unterwürfigkeit zu tun. Es ist eine Willensbekundung. Ich bin da. Ich habe mich eingefunden. Ich bin ganz bei der Sache und bereit zum Mittun. Danke, dass du dabei bist. Lass uns mit ein paar Grundkenntnissen zum Thema Wasser anfangen. Keine Beschränkung Warum war die Vorstellung, wie Wasser zu sein, so wichtig für meinen Vater? Schließlich lautete die zentrale Lehre, mit der er seine Kunst und sein Leben auf den Punkt brachte, doch folgendermaßen: Nutze keinen Weg als Weg, betrachte keine Grenze als Grenze. Aber beschreibt nicht gerade das perfekt das Wesen des Wassers? Für jeden, der sich schon mal mit einem Leck herumschlagen musste, ist es oft rätselhaft, wie das Wasser reingekommen und an eine bestimmte Stelle gelangt ist. Manchmal muss man die ganze Wand oder die Decke aufreißen, um rauszufinden, wo es herkommt und welchen Weg es nimmt. Erst neulich habe ich wieder diese Erfahrung gemacht, als Wasser in mein Büro lief. Wir waren uns ziemlich sicher, dass es vom Dach her kam, aber es tropfte nicht einfach durch ein Loch unmittelbar über uns. Es tauchte an allen möglichen Stellen auf und sickerte durch die Wand im ersten Stock. Der Vermieter schickte dreimal jemanden zur Reparatur, aber ohne einen erkennbaren Eintrittspunkt drangen die Bemühungen des Handwerkers nicht zum Kern des Problems vor. Also ließen wir unsere Abdeckplanen und Eimer im ersten Stock, wo sie waren, in dem Glauben, im Stockwerk darunter sei alles einigermaßen sicher. Dann regnete es wieder, diesmal sintflutartig. Und da das Wasser einmal in die Wand im ersten Stock gelangt war, verfolgte es weiter seinen Weg durch sie hindurch, traf auf die Decke und lief weiter an den Balken entlang. Als wir am nächsten Tag zurückkamen, tropfte über die gesamte Breite des ersten Stocks Wasser von den Deckenbalken. So betrüblich das für uns auch war, war es vom Standpunkt des Wassers aus gesehen eine tolle Leistung. Weil sich das Wasser nicht Einhalt gebieten ließ. Es bahnte sich einen Weg, ja sogar mehrere Wege. Es schritt voran, bis es auf ein Hindernis traf, und dann änderte es, als es nötig wurde, seinen Kurs und floss weiter. Es machte aus der Aus-weg-losigkeit einen Weg. Mit anderen Worten, es nutzte alle Mittel und Wege. Es setzte sich keine Grenze. Obwohl wir inzwischen das Dach repariert haben, sucht sich das Regenwasser immer noch unbeirrt seinen Weg, jetzt allerdings außerhalb des Hauses und nicht mehr drinnen. Zum Glück. Das ist das Wesen des Wassers. Es ist unaufhaltsam. Und auch wenn das Wort Wasser in dem oben zitierten Leitsatz meines Vaters nicht vorkommt, so verdeutlicht er doch ausgezeichnet eine der herausragenden Wassereigenschaften, mit denen wir uns mal etwas genauer beschäftigen sollten – dass sich Wasser nicht aufhalten lässt. Es gräbt über Jahrhunderte Schluchten in Gebirge. Und wenn ich das Wort »beschäftigen« benutze, dann deshalb, weil ich nicht möchte, dass wir nur mal kurz darüber nachdenken. Das Leben ist schließlich mehr als eine Denksportaufgabe. Mit »beschäftigen« meine ich, sich etwas einverleiben, es sich durch den Kopf gehen lassen, es erfahren, es fühlen und ihm Einlass gewähren. Betrachten wir also das Wasser unter dem Aspekt, dass es nicht aufzuhalten ist – ähnlich wie viele Menschen Bruce Lee als nicht aufzuhalten gesehen haben. Du wirst vermutlich auch eine bestimmte Vorstellung von ihm als heldenhaftem, hartem Hund haben, der kurzen Prozess mit seinen Gegnern machte – sowohl im Film als auch im richtigen Leben. Was gehört also dazu, unaufhaltsam wie Wasser zu sein? Sei achtsam Für meinen Vater bedeutete »im Fluss sein« auch, gegenwärtig zu sein – sein Leben bewusst und zielgerichtet zu leben. Gegenwärtig zu sein heißt mehr, als nur Raum auszufüllen. Es geht nicht nur darum, ob man zum Unterricht erscheint, sondern ob man aktiv daran teilnimmt. Hörst du zu, stellst du Fragen, machst du dir Notizen, beteiligst du dich am Meinungsaustausch? Oder bist du zwar körperlich anwesend, aber am Handy, schon halb eingeschlafen, mit der Kapuze über dem Kopf und Stöpseln im Ohr? Gegenwärtig zu sein ist eine Schlüsselkomponente für das Wie-Wasser-Sein. Wie das? Nun ja, wenn das Regenwasser aus meinem Beispiel nicht in jedem Augenblick in aktivem Austausch mit seiner Umgebung gewesen wäre, hätte es nicht in mein Büro hineingefunden. Das ist das Wesen des Wassers. Wir dagegen können wählen, ob wir schon am ersten Hindernis stehen bleiben oder weitermachen, anders als das Wasser, das immer weitermacht, wenn es die Möglichkeit hat. Und vergiss nicht, dass selbst scheinbar stille Wasser von tiefen, sprudelnden Quellen, Dauerregen oder Schneeschmelze gespeist werden. Andernfalls würden sie anfangen zu stinken oder am Ende verdunsten. Wenn wir also unser menschliches Potenzial ausschöpfen wollen, dann dürfen auch wir nicht selbstgefällig werden oder uns aufhalten lassen. Wir müssen uns unseren Weg suchen und uns immer wieder neu auffrischen lassen. Und damit wir unseren Weg auch finden, müssen wir aufmerksam sein. Wir müssen darauf achtgeben, was um uns herum vor sich geht. Von meinem Vater gibt es ein Zitat, das ich besonders gern mag. Es lautet: »Um zu wachsen, um zu entdecken, müssen wir uns einbringen, etwas, das ich täglich erlebe; manchmal ist es gut und manchmal auch frustrierend.« Du denkst jetzt vielleicht: »Bringt sich denn nicht jeder in sein eigenes Leben ein?« Genau genommen ist es so, dass wir uns zwar insofern einbringen, als wir atmen und Dinge erledigen, viele von uns jedoch ihr Bewusstsein, ihre Selbsterkenntnis und letztendlich auch ihr Potenzial nicht voll ausnutzen. Wir steuern nicht vorausschauend den Verlauf unseres Lebens, schenken unserer Energie, unserem Umfeld und den Beziehungen, in denen wir uns befinden, nicht die nötige Aufmerksamkeit. Vielen von uns widerfährt das Leben nur. Wir sind gefangen in unbewussten Verhaltensmustern und vergessen, dass es doch eigentlich viele Alternativen gibt und viele Möglichkeiten, uns in die Gestaltung unseres Lebens einzubringen. Um es anders auszudrücken, wir sollten durch und durch lebendig sein, statt nur zu existieren. Und dazu müssen wir aufmerksam sein. Das soll nicht heißen, dass wir pausenlos gut drauf sein, die Zügel in der Hand haben, in unserem Element sein müssen. Das wäre sicher zu anstrengend und für die meisten von uns vermutlich auch gar nicht rund um die Uhr machbar, denn wie wir ja alle wissen, haben wir das Leben nun mal nicht immer in der Hand. Aus heiterem Himmel passieren uns schlimme Dinge. Wir werden entlassen. Wir werden krank. Wir verlieren einen lieben Menschen. Oder wir haben mitunter einfach alles satt und klinken uns aus. Da wäre zum Beispiel eine »Wasser-Übung« nach Art von Bruce Lee ein ideales Mittel, um unsere Aufmerksamkeit zu erhöhen und unsere Gegenwehr zu schärfen, damit wir fähig werden, dem Leben und allem, was es uns zumuten mag, mit so viel Fertigkeit, Bewusstheit und Eleganz wie möglich zu begegnen – und so ganz nebenbei den für uns richtigen Weg zu finden. Dabei spielen Gegenwärtigkeit und Achtsamkeit eine große Rolle. Wenn ich total negativ drauf bin oder jemanden aus einem rein emotionalen Reflex heraus anschnauze, dann gehe ich nicht auf eine Situation ein, ich reagiere einfach nur. Wenn ich gar nicht so recht weiß, wie ich mich fühle oder welche Gedanken mir durch den Kopf gehen, wie soll ich da schlechte Gewohnheiten ablegen oder größere Zufriedenheit finden? Ich muss in der Lage sein, mich zu beobachten, damit ich sehen kann, was ich ändern muss. Wenn ich achtgebe, merke ich, was um mich herum und in mir drinnen vorgeht, und nur dann kann ich ungehindert entscheiden, wie ich mich einbringen möchte. Man kann sich nicht für etwas entscheiden, wenn man gar nicht erst erkennt, dass man eine Wahl hat. Stell dir mal vor, wie es wäre, wenn du imstande wärst, dir jederzeit und in jeder Situation deine Reaktion auszusuchen, statt von einem Impuls übermannt zu werden. Was, wenn du dich angesichts einer besonderen Herausforderung mal nicht von deinen Gefühlen hinreißen lässt oder dichtmachst und wie gelähmt bist? Stell dir vor, wie es sich anfühlen würde, bei jedem Geschehnis voll und ganz gegenwärtig zu sein. Wie es wäre, in jeder Lebenslage die perfekte Reaktion zu zeigen, die deine Persönlichkeit genau widerspiegelt, statt dich aufzuregen oder die beleidigte Leberwurst zu spielen. Würdest du dich da nicht stark fühlen? Okay, ich sehe ein, dass dir dieses imaginäre kraftvolle Leben, so herrlich es sich auch anhört, momentan noch ziemlich unrealistisch erscheint. Das ist auch völlig in Ordnung. Wir werden uns das alles noch mal realistisch und lebensnah anschauen, denn wir brauchen ja schließlich nicht perfekt zu sein. Ja, du hast richtig gehört: Wir brauchen nicht perfekt zu sein. Wie Wasser zu sein heißt, nicht nach Vollkommenheit zu streben. Vollkommenheit ist ein heikler Lehrmeister. Wie Wasser zu sein heißt, nicht alles unter Kontrolle zu haben. Kontrolle ist eine schwere Last. Lass uns für den Moment Vollkommenheit und Kontrolle mal unter diesem Aspekt betrachten. In der beständigen und unvollkommenen Entfaltung von Leben steckt Vollkommenheit, denn jede Unvollkommenheit bietet mir die Chance, etwas zu lernen, das mich weiterbringt und das ich anwenden kann. Indem ich das lebe, was mir schwerfällt – Akzeptanz, Geduld, Liebe, Besserung –, gewinne ich Selbstvertrauen, bis die Fertigkeit, die ich lebe, mir in Fleisch und Blut übergeht. Vollkommenheit sollte mehr als Mittel gesehen werden, unsere Aufmerksamkeit zu schärfen, und weniger in ihrem landläufigen Sinn als eine Vollendung, die wir erreichen wollen. Haben wir uns erst mal mit dieser Sichtweise angefreundet, fällt es uns auch nicht mehr schwer, die Unvollkommenheiten des Lebens als perfekte Lehrmittel und Chancen für unsere Weiterentwicklung und Verbesserung zu betrachten statt als Maßstab für unseren Erfolg. Und dann ist da noch die Kontrolle. In dem astrologischen Geburtstagsbuch. Botschaften der Sterne für jeden Tag von Gary Goldschneider und Joost Elffers hat jeder Tag des Jahres einen Namen. Ich wurde demnach am »Tag der vollständigen Kontrolle« geboren. Ausgerechnet ich! Wer mich kennt, würde mich wohl kaum als Kontrollfreak beschreiben (zumindest hoffe ich das). Mir sind schon so viele Dinge passiert, die sich meiner Kontrolle entzogen haben, dass ich eher dazu neige, mich von vornherein geschlagen zu geben und das Beste aus einer Situation zu machen, statt zu versuchen, mir alles nach meinem Willen zurechtzubiegen. Allerdings sollte man hier einen Mittelweg suchen. Und der liegt möglicherweise darin, auszuloten, wie viel Kontrolle ich durch »Nicht-Kontrolle« ausüben kann. Wo kann ich in den Nachwehen eines Problems einen Weg erkennen? Wie stark kann ich meinen Willen geltend machen, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen, und dabei gleichzeitig dem, was sich tatsächlich ereignet, Raum geben? Vor Kurzem hatte ich ein großes Projekt, an das ich fest glaubte, das aber nicht ablief wie geplant. Mehr noch, es drohte krachend zu scheitern. Also versuchte ich, die Sache in den Griff zu bekommen, indem ich Himmel und Hölle in Bewegung setzte, um die richtigen Leute einzubinden und die notwendigen Änderungen zu veranlassen, während uns gleichzeitig Geld und Optionen ausgingen. Ich hing so sehr an dem Projekt. Ich wollte es erhalten, aber ich hatte einfach schlechte Karten. Also entschied ich mich im letzten Augenblick, mich nicht weiter gegen das zu wehren, was nicht mehr zu verkennen war. Es war unschön. Ich hatte Investoren mit hohen Erwartungen. Ich musste Menschen entlassen und Standorte schließen. Aber ich beschloss, mich dem Geschehen zu stellen und allen Widerstand aufzugeben. Ich legte die Zukunft des Projekts in die Hände des Universums und sagte: »Zeig mir den Weg.« Und wie Wasser begann ich dem Lauf dieser neuen Entwicklung zu folgen, statt zu versuchen, Hunderte Dämme zu bauen, um den Kurs des Stroms zu erzwingen. Okay, eine Phase des Projekts war zu Ende, aber daraus entwickelten sich einige neue Ideen (bessere sogar!) sowie neue potenzielle Partnerschaften und Möglichkeiten. Und das Wichtigste war, dass ich, indem ich losließ und dem natürlichen Gang der Dinge folgte, nicht etwa aufgab oder scheiterte. Ich fand einen neuen Weg und verringerte meinen Stress und meine Sorgen, während ich gleichzeitig auch noch Energie dazugewann. Und obwohl ich immer noch nicht weiß, ob dieses Projekt erfolgreich sein wird, bin ich weiter imstande, mich ihm ganz zu widmen, da zu sein, meine Energie da einzusetzen, wo sie nötig ist, und den Rest sich auf natürliche Weise entfalten zu lassen. Der Unterschied ist nur, dass ich nicht länger versuche, das Schicksal dieses ganzen komplizierten Unternehmens zu kontrollieren, und es muss auch nicht mehr perfekt werden. Ich bringe mich ein und gestalte mit, aber ich erzwinge nichts mehr. Mein Vater sagte: »Da ist der natürliche Instinkt, und da ist die Kontrolle. Du musst beides harmonisch zusammenführen.« Und so überlege ich ständig, wie viel »Kontrolle« ich im Rahmen meines vollkommen unvollkommenen Ichs ausüben kann, um voll und ganz gegenwärtig und verantwortungsvoll zu sein, wenn ich es mit schwierigen Situationen oder Menschen zu tun habe – damit ich einen neuen Weg für mich selbst und das, was ich erschaffe, erkennen kann. Das klappt nicht immer so ganz, und es steckt reichlich Lernstoff in der Überlegung, was hätte anders gemacht werden können. Doch alles Wachsen und Lernen, ob nun sofort oder später, funktioniert nur dann, wenn ich meinen inneren und äußeren Erfahrungen gegenüber voll und ganz aufgeschlossen bin. Sei geschmeidig Während der Mensch lebt, ist er weich und geschmeidig; ist er tot, wird er starr. Geschmeidigkeit ist Leben, Starrheit ist Tod, egal, ob es um den Körper, den Verstand oder die Seele geht. Sei geschmeidig. Eine der einfachsten und einleuchtendsten Lektionen des Wassers ist seine Geschmeidigkeit. Wirfst du einen Stein in einen Fluss, passt sich der Fluss so weit an, dass er Platz macht für den Stein. Das ist eins der Dinge, die mein Vater als Teenager an jenem Tag lernte, als er im Wasser eine Metapher für Gung Fu erkannte. Als er das Wasser zu fassen versuchte, rann es ihm durch die Finger. Als er dem Wasser einen Schlag versetzen wollte, entzog es sich seiner Faust und erlitt keinen Schaden. Mein Vater sprach später im Zusammenhang mit dem Leben und der Kampfkunst oft über die Bedeutung von Sanftheit und Geschmeidigkeit. Er wiederholte auch häufig die Lehre aus dem Bambus und der Eiche im Sturm, die ihm sein Sifu vermittelt hatte. Die Starrheit der Eiche führt am Ende zu ihrem Tod, ebenso wie ein starrer Geist oder eine starre Haltung einen Lern- und Wachstumsprozess verhindern kann und dadurch mit der Zeit zu Stress und Unzufriedenheit führt. Wenn man in seinem Denken oder in seiner Reaktion auf eine Situation nicht geschmeidig sein kann, schränkt man seine Aussichten auf Erfolg, Wachstum und auch auf Freude ein. Aber wie können wir geschmeidig, reaktionsfähig und zentriert bleiben? Wir wissen ja schon, dass es ganz wichtig ist, immer gegenwärtig und sich des Geschehens bewusst zu sein, damit wir auch flexibel reagieren können. Nehmen wir mal eine Anleihe bei der Kampfkunst. Der Kampfsport erfordert ganz konkret, dass man zu hundert Prozent gegenwärtig und fließend (beweglich) ist, um nicht kalt erwischt und aus dem Gleichgewicht gebracht – oder gar k. o. geschlagen – zu werden. Man muss auf den ankommenden Schlag reagieren, um ihm entweder auszuweichen oder ihn abzuwehren. Yip Man riet dem jungen Bruce, hart zu trainieren und dann ganz von sich selbst abzusehen und stattdessen die Bewegungen seines Gegners zu verfolgen. Wie Wasser zu sein bedeutet, sich seiner Umgebung und seinem Gegner anzupassen. Oder anders ausgedrückt, es bedeutet, geschmeidig zu sein. Doch wie lässt sich dieses Konzept auf das Leben übertragen? Wie Wasser sein heißt »im Fluss« sein. Sei zunächst mal gegenwärtig und achtsam und dann anpassungsfähig und beweglich. Wäre es im Leben nicht auch eine große Hilfe, wenn man imstande wäre, pausenlos achtsam zu bleiben und dadurch seine Probleme zu »umfließen«? Wenn mein Vater auch niemals den moderneren Ausdruck Flow-Zustand benutzte, so sprach er doch häufig vom »Fließen«. Für ihn war wie Wasser sein weit mehr als eine Metapher für Gung Fu, es war eine Leitphilosophie für das ganze Leben – eine, die er auf das Erlernen neuer Dinge, die Überwindung von Hindernissen und letzten Endes auch auf die Entdeckung seiner wahren Berufung anwandte. Mein Vater benutzte den Begriff des »lebendigen Wassers«. Wir wollen hier auch nicht von stagnierenden Tümpeln sprechen, ebenso wenig wie wir ein stagnierendes Leben führen wollen. Mein Vater verwendete auch häufig das Bild des fließenden Stroms oder das der Wellen im Ozean. So sagte er unter anderem: »Wie fließendes Wasser so ist auch das Leben permanente Bewegung.« Das Leben ist immer in Bewegung. Es ist niemals festgelegt. Selbst in unseren täglichen routinemäßigen Abläufen sind feine Unterschiede am Werk – unser Timing, unsere Stimmung, unsere Umgebung. Heute gehst du fünf Minuten früher aus der Tür; morgen hast du Kopfschmerzen; gerade hast du dich mit einer Freundin gestritten; es regnet womöglich, oder du hast dich vielleicht gerade verliebt. Kein Tag ist jemals ganz genau wie der andere, weshalb man, wenn man alle Tage angeht, als wären sie gleich und nicht ständigen Schwankungen unterworfen (d. h. in Bewegung), nicht gegenwärtig ist und damit nicht imstande, flexibel (fließend) auf sein fast unmerklich sich wandelndes Leben zu reagieren. Viele Faktoren wirken sich auf uns aus und verändern unsere Reaktionen selbst auf die alltäglichsten Abläufe. Daher kann uns die Aufstellung verbindlicher Lebensregeln ganz schnell in die Bredouille bringen, vor allem wenn das Leben mal beschließt, uns eine unangenehme Überraschung zu bescheren. Um es mit den Worten des griechischen Philosophen Heraklit zu sagen: »Niemand steigt zweimal in denselben Fluss, denn es ist nicht mehr derselbe Fluss, und er ist nicht mehr derselbe Mensch.« Jeden Tag sind wir anders und sind auch die Umstände andere. Selbst wenn eine Situation allem Anschein nach genau so ist, wie man sie schon einmal erlebt hat, ist sie es dennoch nicht. Nichts ist gleichbleibend. Es kommen immer Nuancen ins Spiel. Die Komplexität des Lebens bringt es mit sich, dass jeder einzelne Augenblick, jede Situation und jede Herausforderung neu ist, möglicherweise nur ganz geringfügig anders, aber dennoch haben sie unsere vollständige Aufmerksamkeit und unsere Flexibilität verdient. Als mein Vater seine Kampfkunst Jeet Kune Do (JKD) entwickelte, legte er großen Wert darauf, sie mit philosophischen Grundsätzen zu ergänzen. Sie dienten dazu, neben dem Körper auch Geist und Seele einzubeziehen, und waren ein Schutz vor einem rein mechanischen Einüben und oberflächlichem Training. JKD betont eine ansatzlose, nicht voraussehbare Bewegung, die sich so unmittelbar und in perfekter Reaktion auf die konkrete Situation vollzieht, dass der Gegner nicht sehen kann, was auf ihn zukommt. Die mit JKD verbundene Philosophie soll den beziehungsweise die Ausführende in einem Zustand des Fließens und des Gegenwärtigseins verankern, damit er oder sie flexibel bleibt und fähig, eine Veränderung anzustoßen beziehungsweise darauf zu reagieren. Und man kann nur auf Veränderung reagieren, wenn man die notwendige Beweglichkeit besitzt. Jedem Schritt sollte ein Warum zugrunde liegen. Ich möchte die Kampfkunst mit dem Geist der Philosophie erfüllen; deshalb ist das Studium der Philosophie für mich zwingend notwendig. Philosophie hebt mein Jeet Kune Do auf eine neue Sphäre im Bereich der Kampfkunst. Zwar kam Bruce die Idee zu seinem Jeet Kune Do bereits 1965 (auch wenn er ihr erst 1967 formell einen Namen gab), doch tat er sich sein ganzes Leben lang schwer damit, seine Vorstellungen in eine dauerhafte Form zu bringen, etwa in einem Buch. Er publizierte seine Ideen gerade deshalb nicht, weil er seine Kunst als etwas Lebendiges ansah, das zu Veränderung und Entwicklung fähig war, und weil er nicht den Eindruck erwecken wollte, das schriftlich Fixierte wäre alles. Er hatte Sorge, die Schüler des JKD würden nicht ihre spezifische eigene Erfahrung in den Lernprozess einbringen. Er tat sich so schwer damit, dass er zwar viele Fotos von Techniken machte und Seite um Seite mit seinen Gedanken zum Kampf vollschrieb, sich aber nicht dazu durchringen konnte, sie zu veröffentlichen. Er wollte keine »strenggläubigen« Anhänger schaffen, die sich weigerten, ihre eigenen Erfahrungen zu hinterfragen. Nichtsdestotrotz wurde 1975 posthum das Buch Das Tao des Jeet Kune Do von meiner Mutter und Mito Uyehara vom Black Belt-Magazin herausgebracht, die damit die Lehren und Gedanken meines Vaters über seinen Tod hinaus bewahren wollten. Es wurde sorgfältig darauf geachtet, dass kein Handbuch nach Schema F dabei herauskam, sondern ein Buch, das den Leser zu eigenen Gedanken und Entdeckungsreisen anregen möchte. Darin zeigte sich dann auch einmal mehr, wie sehr es Bruce Lees Freunden und Familie schon in Fleisch und Blut übergegangen war, seinem Wunsch gemäß in allen Ansätzen offen und flexibel zu bleiben. Später folgten noch weitere Handbücher, aber Das Tao des Jeet Kune Do ist und bleibt das Standardwerk zu diesem Thema, auch wenn es das abstrakteste ist. Und genau durch diesen Grad an Abstraktheit in der Darstellung spiegelt es so wunderbar das Wasser-Konzept meines Vaters wider. Es will nämlich nicht den Leser beeinflussen oder auf etwas festlegen, sondern lässt ihn aktiv und flexibel an seinem Erkenntnisprozess mitwirken. Die rechte Anspannung Eine der Grundlagen des Jeet Kune Do ist die Wachsamkeitsstellung: Die Wachsamkeitsstellung ist die Stellung, die für die mechanische Ausführung der gesamten Techniken und Künste am vorteilhaftesten ist. Sie ermöglicht völlige Entspannung, während sie gleichzeitig einem Muskel die für eine schnelle Reaktionszeit günstigste Anspannung verleiht. Die Wachsamkeitsstellung muss vor allem eine Position der »richtigen geistigen Einstellung« sein. (aus: Das Tao des Jeet Kune Do von Bruce Lee) Die Wachsamkeitsstellung war das, was mein Vater als die Ausgangsposition für seine Kunst bezeichnete – die Position, aus der heraus sich, wo immer möglich, alle Bewegungen entfachen sollten. Diese Stellung war einzigartig. Sie basierte auf seinem Verständnis der Gesetze der Physik und der Biomechanik sowie einer Analyse zahlreicher Kampfkünste, darunter vor allem Wing Chun, Boxen und Fechten. Bruce Lees Wachsamkeitsstellung war sowohl entspannt als auch aktiv. Bei dieser Stellung ist die hintere Ferse angehoben wie eine gewundene Schlange, bereit, sich jeden Augenblick abzustoßen und zuzuschlagen. Die Gliedmaßen sind locker, aber nicht schlaff. Die Knie leicht gebeugt, die Füße in Hüftbreite auseinander, etwa eine natürliche Schrittlänge voneinander entfernt, die Zehen des hinteren Fußes zeigen auf den Innenrist des vorderen Fußes, woraus ein stabiles Dreieck entsteht, das es schwer macht, dich nach hinten oder von einer Seite zur anderen zu stoßen. Mit anderen Worten, aktiv und dennoch standfest, entspannt und dennoch bereit. Wenn man sich meinen Dad in seinen Filmen anschaut, hüpft er häufig auf seine ihm eigene Weise locker vor seinem Gegner auf und ab. Er ist leichtfüßig, bereit, den Winkel seines Standes jeden Augenblick zu verändern. Doch er entfernt sich niemals, selbst in der Bewegung nicht, weit von der oben beschriebenen Stellung, sodass er jederzeit zuschlagen kann. Er schreibt über seine Stellung: »Ein guter Stand ist die Grundvoraussetzung.« Und so sollte man meiner Ansicht nach auch ans Leben herangehen. Ein guter Stand bedeutet, man hat eine feste Haltung, von der aus man sich flexibel in alle Richtungen bewegen kann. Sie schafft genau das richtige Gleichgewicht zwischen Entspannung und Anspannung, sodass Reaktionen prompt und wirkungsvoll ausfallen können. Und es bedeutet auch, sich mit Leichtigkeit bewegen und neu positionieren zu können, damit wir nie in Trägheit verfallen – »eine einfache und effektive Selbstdisziplinierung, sowohl mental als auch körperlich«. Es ist eine Haltung für ein engagiertes Leben.